Der Stellvertreter des Vorsitzenden des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, Dmitrij Medwedjew, amüsiert und verschreckt weiterhin die Leser seines Telegram-Kanals (deren Zahl bereits über eine halbe Million, lt. anderen Angaben über anderthalb Millionen liegt). Zuerst gab er eine Prognose für das Jahr 2023 ab, wobei er die Möglichkeit eines großangelegten Krieges und einer neuen Aufteilung Europas, eines Bürgerkrieges in den USA und des Sieges von Elon Musk bei den Präsidentschaftswahlen in den „Republikaner-Staaten“ einräumte. Und danach stürzte er sich auf die aus Russland ausgereisten Bürger, wobei er aufrief, sie als „Volksfeinde“ anzusehen und ihnen eine Rückkehr in die Russische Föderation zu verbieten.
Zur gleichen Zeit trat Medwedjew im Regierungsblatt „Rossiskaja Gazeta“ mit einem Beitrag programmatischer Art auf. In dem versprach er, dem „abscheulichen Regime der Kiewer Nationalisten“ ein Ende zu bereiten, und erklärte, dass man derzeit im Westen mit keinem sprechen sowie sich über nichts – und wozu auch – einigen könne. Der 57jährige ist der Auffassung, dass man normale Beziehungen mit den westlichen Ländern nur dann anbahnen könne, wenn in ihnen eine neue Generation von Politikern an die Macht komme. Nach seiner Meinung sei der ideologische und philosophische Zusammenbruch der westlichen Weltanschauung offensichtlich, und den Angelsachsen und „anderen Ländern, die der Finsternis einen Treueeid abgelegt haben“, werde es nicht gelingen, die russische Welt zu spalten. Der Stellvertreter des Vorsitzenden des russischen Sicherheitsrates kündigt eine Änderung der Wirtschafts- und energetischen Ordnung in den hinsichtlich des „antirussischen Blocks“ verbündeten Ländern. Die Welt werde nach seinen Worten an der Grenze eines dritten Weltkrieges und einer nuklearen Katastrophe balancieren, da Russland (das danach strebe, all dies zu vermeiden) vom Westen keine Sicherheitsgarantien erhalte.
Man kann sagen, dass Medwedjew die Philosophie der russischen „großen Wende – 2022“ darlegte. Ungefähr über eben dieses, wenn auch nicht immer genauso scharf, sprechen Präsident Wladimir Putin und die Vertreter des Außenministeriums der Russischen Föderation. Medwedjew aber beendet das Jahr mit einer neuen Funktion. Er wurde zum 1. Stellvertreter der Militär-Industrie-Kommission der Russischen Föderation, deren Rolle heutzutage aufgrund verständlicher Ursachen recht bedeutsam ist. Man kann wohl von einer institutionellen „Renaissance“ Medwedjews sprechen, den man vom Wesen her im Januar des Jahres 2020 in den Schatten gedrängt hatte.
Es ist schwierig, die öffentliche Aktivierung des Ex-Präsidenten und Ex-Premiers im Jahr 2022, selbst wenn man von der letzten Ernennung und dem programmatischen Zeitungsbeitrag ausgeht, eindeutig zu interpretieren. Alles verweist darauf, dass er Ambitionen hat und nicht mit dem aktuellen Kräfteverhältnis in der Führungsriege des Landes zufrieden ist. In der sich veränderten Konjunktur hatte er begonnen, den Konfrontationsdiskurs zu reproduzieren, wobei er in den Formulierungen kein Blatt vor den Mund nimmt, buchstäblich wie ein populistischer Politiker, der um Wählerstimmen buhlt. Dies kontrastierte auf unwahrscheinliche Art und Weise mit seinem früheren Ruf eines Kreml-Liberalen, eines Verfechters einer Modernisierung und Anhängers eines Dialogs mit dem Westen. Und dies war möglicherweise einfach ein Versuch, nicht aus dem Kontext herauszufallen, da in der Politik Feldkommandeure und nicht Innovatoren eine immer spürbarere Rolle spielen.
Wenn dem so ist, so kann man die neue Ernennung als eine Befriedigung des Bedürfnisses und der Ambitionen ansehen. Vielleicht ist dies aber ein Spiel mit höheren Einsätzen. In den Jahren 2007-2008 standen die nationalen Projekte im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Herrschenden. Und Medwedjew, Putins Nachfolger und Präsidentschaftskandidat, zeichnete für sie verantwortlich. Jetzt steht die militärische Sonderoperation Russlands in der Ukraine im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Und es ergibt sich, dass Medwedjew der zweite nach Putin selbst in der Struktur ist, die auf die Absicherung der militärischen Sonderoperation mit allem Nötigen aufpassen soll.
Von einer neuen Operation „Nachfolger“ mit Medwedjew in der Hauptrolle zu sprechen, ist verfrüht. Ein indirektes Anzeichen dafür, dass sie gestartet wurde, könnten die allwöchentlichen Vertrauensratings des Allrussischen Meinungsforschungszentrums VTsIOM sein. Dort hat Medwedjew bisher keine spürbare positive Dynamik. Er ist sogar im Vergleich zum Herbst „eingebrochen“. An der politischen Ausschreibung innerhalb der Elite wird er jedoch bestimmt teilnehmen, einen passionarischen Charakter demonstrieren und offenkundig nicht mit einem Ruheposten in der Art des Vorsitzenden des Verfassungsgerichtes (Medwedjew ist studierter Jurist – Anmerkung der Redaktion) einverstanden sein, was ihm viele prophezeiten. Er war bereits ganz, ganz oben. Diese Erfahrungen heben ihn von anderen Figuren ab. Und die ideologische Haut ändert sich leicht – man kann sie sich überstreifen, aber auch abwerfen. Entsprechend der Lage.