Die Polizei hat zwei Gründe für das faktische Auseinanderjagen des Forums kommunaler Abgeordneter am 13. März in Moskau und der Festnahme seiner Teilnehmer genannt. Erstens habe die Versammlung unter Verletzung der festgelegten sanitär-epidemiologischen Normen stattgefunden. Das heißt: Bei vielen Festgenommenen „fehlten individuelle Schutzmittel“. Zweitens, unter jenen, die zu dem Forum gekommen waren, entdeckte man „Mitglieder einer Organisation, die auf dem Territorium der Russischen Föderation als eine unerwünschte anerkannt worden ist“.
Sanitär-hygienische Normen sind nicht nur in der Zeit der Pandemie notwendig. Sie erweisen sich bereits nicht das erste Mal als ein sehr wirksames Instrument für eine faktische Einschränkung der politischen Freiheiten. Die von den Vertretern der Rechtsschutzorgane genannten Gründe für das Auseinanderjagen des Forums zeigen lediglich, dass man stets einen formellen Anlass finden kann, um eine oppositionelle Tätigkeit zu behindern.
Im Verlauf mehrerer Jahre hatten die Offiziellen inklusive der ersten Personen des Staates der Opposition etwas in der Art eines Ratschlages gegeben: Stellen Sie sich ab dem ersten Tag nicht als Politiker föderalen Maßstabs vor! Werden Sie für den Anfang kommunale Abgeordnete! Lernen Sie das Volk kennen, fühlen Sie das Land, in dem Sie leben! Und schon dann, wenn Sie durch Taten beweisen, dass Sie ernsthafte Politiker sind, können Sie Fragen gesamtrussischer Bedeutung aufwerfen und auf ganz andere Mandate Anspruch erheben.
Es wird eine Übertreibung sein zu sagen, dass die Opposition dem Gehör schenkte. Jedoch sind viele Kritiker und Gegner der Herrschenden gerade solch einen Weg gegangen: Sie kandidierten für kommunale Gremien. Und der eine oder andere (und solcher gibt es nicht wenige) siegte, erhielt ein Mandat und fing zu arbeiten an. Zum Forum der kommunalen Abgeordneten kommen 200 Menschen zusammen. Und dies sind vorrangig Menschen, die selbst entsprechend den durch die Offiziellen vorgeschlagenen Kriterien wichtige Schritte in der normalen Politik unternommen haben. Aber wenn solch eine Versammlung auseinandergetrieben wird, wenn ihre Teilnehmer festgenommen werden, ergibt sich, dass für einen kommunalen Abgeordneten keinerlei weitere Stufe vorgesehen ist, wenn er über das gegenwärtige System unzufrieden ist.
Experten sind der Annahme, dass die Herrschenden vor den Staatsduma-Wahlen die potenziellen Nutznießer des „Smart Votings“ – einer politischen Technologie, die durch Alexej Nawalny und seine Anhänger aktiv implementiert wird – einschüchtern würden. Möglicherweise ist dem so. Vom Wesen her erlauben die Offiziellen diesem System nicht sich zu entwickeln sowie in ein Quasi-Partei- oder Koalitionsprojekt zu verwandeln.
Vom Prinzip her kann das „Smart Voting“ auch ohne eine vorherige Vorbereitung und ohne Konsultationen funktionieren. Das Wesen der Technologie besteht in der Unterstützung oder der Organisierung einer Abstimmung gegen die Partei der Herrschenden und deren Kandidaten. Und einen Kandidaten der Herrschenden wird es bei den Wahlen unbedingt geben. Und ganz bestimmt wird sich so auch unbedingt dessen Opponent auf dem Wahlzettel finden, wenn auch ein technischer. Für das „Smart Voting“ ist dies ausreichend. Für eine Entwicklung des Systems – natürlich nicht.
Das Auseinanderjagen des Forums erscheint als eine überzogene Maßnahme, als eine „Überreaktion“. Schließlich behaupten die Offiziellen, dass selbst der „Patient einer Berliner Klinik“ Nawalny keinen bewegen würde. Weshalb aber dann solch eine Strenge in Bezug auf ein paar hundert kommunalen Abgeordneten? Die reale Haftstrafe für eben jenen Nawalny, die Einstufung einzelner Organisationen als „unerwünschte“ oder „ausländische Agenten“, das Auseinandertreiben von Aktionen, die Androhung einer Blockierung sozialer Netzwerke jedoch – all dies engt auf maximale Weise den Horizont der oppositionellen Tätigkeit ein. Und die Herrschenden, die solche Rahmen abgesteckt haben, sind selbst gezwungen, sich an die harte Linie zu halten: Sie können nicht ein Meeting auseinanderjagen, ein Forum unter Beteiligung der gleichen Menschen aber auf einmal zulassen. Und es ist nicht wichtig, dass diese Menschen legitim in ihre Ämter gewählt worden sind.
All dies verwandelt selbst das legale Oppositionell-Sein in Russland in eine überaus schwere Quest, in eine Prüfung, und dabei mit unklaren Perspektiven. Um solch einen Weg zu gehen, wird unverbesserlicher Mut gebraucht. Und zu verlangen, dass hunderte, tausende Menschen solche Qualitäten haben, ist schwierig. Das Spektrum der zulässigen Handlungen eines kommunalen Abgeordneten wird de facto auf ein Aufstellen von Bänken, die Sauberkeit in den Hauseingängen und den Kampf für die Bewahrung kleiner Parkanlagen und historischer Gebäude beschränkt. Jegliche anderen Ambitionen aber – ergibt sich – grenzen an ein Verbrechen.