Das Levada-Zentrum (das durch das Justizministerium Russlands in das Register der nichtkommerziellen Organisationen, die Funktionen eines ausländischen Agenten wahrnehmen, aufgenommen worden ist) hat eine Umfrage durchgeführt, deren Ergebnisse der Nicht-System-Opposition wohl kaum Hoffnung machen werden. Die veröffentlichten Daten belegen, dass lediglich 22 Prozent der Befragten den Teilnehmer der jüngsten Massenprotestaktionen, die nicht durch die Behörden sanktioniert wurden, „eher positiv“ gegenüberstehen. Eine negative Haltung bekundeten 39 Prozent.
Wichtig ist, noch einmal zu unterstreichen, dass dies eine Veröffentlichung des Levada-Zentrums ist. Seine Umfragen zeichnen in der Regel ein für die Herrschenden weitaus besorgniserregenderes Bild als beispielsweise die Untersuchungen des Allrussischen Meinungsforschungszentrums VTsIOM. Dies ist vermutlich eine Frage der Auswahl bzw. des Panels. Den Soziologen aus dem Levada-Zentrum gelingt es allem Anschein nach, mehr Vertreter der Mittelklasse, der städtischen Intellektuellen und der kritisch eingestellten Jugend zu erfassen. Hier aber hat auch dies nicht geholfen.
Es gibt zwei konkurrierende Narrative über die Proteste. Die Opposition behauptet, dass die Menschen friedlich auf den Straßen zusammenkommen würden, müde geworden, die Korruption und die Willkür der Herrschenden zu dulden. Und zum Auslösemechanismus ist der „Fall von Alexej Nawalny“ geworden, der anstelle einer Bewährungs- eine reale Haftstrafe erhielt. Gemäß diesem Narrativ verhalte sich die Polizei brutal, indem sie Protestierende mit Gummiknüppeln schlägt, sie in Gefangenentransporter wirft und deren Rechte verletzt. Die Offiziellen ihrerseits bestehen darauf, dass keine friedlichen Bürger auf die Straßen kommen würden, sondern aggressive Schlägertypen, die das ruhige Stadtleben stören, sich hinter Frauen und Kindern verstecken und überdies auch für den „ausländischen Agenten“ und „Verräter“ Nawalny eintreten würden. Die Umfrage des Levada-Zentrums zeigt scheinbar, welches der Narrative sich im öffentlichen Raum bisher als wirksameres, als überzeugenderes erweist.
Zum Vergleich — die Zahlen einer Umfrage, die den August-Protestaktionen in Chabarowsk gewidmet war, wo die Menschen über die überraschende Festnahme des Gouverneurs Sergej Furgal empört waren. „Eher positiv“ standen 47 Prozent der Befragten den Protestierenden gegenüber. Negativ – nur ganze 16 Prozent.
Ein frappierender Kontrast und ein durchaus erklärbarer. Im Fall mit den Chabarowsker Protesten hatten die die Herrschenden keine konfliktgeladenen Narrative hervorgebracht. Und die Propaganda-Maschine ist in solchen Situationen nicht so effektiv. In anderen Regionen sympathisierten die Befragten den Einwohnern von Chabarowsk, wobei sie ihre Empörung nicht auf die Figur von Furgal fokussierten. Sie dachten einfach, dass „sich bei den Menschen da etwas angestaut hatte“, und teilten durchaus deren Gefühle. In den weit vom föderalen Zentrum gelegenen Regionen spürt man recht deutlich sowohl die Folgen der wirtschaftlichen Stagnation als auch den Einfluss der Pandemie. Es ist ein spektakulärer Fall ausreichend, damit ein sozialer Brand aufflammt. Diese Protestierenden kann man im Unterschied zu den Moskauern oder Petersburgern recht schwer als ausländische Agenten darstellen, die „vom State Department bezahlt wurden“. Die Herrschenden bemühen sich, mit ihnen sanfter umzugehen, da sie verstehen: Das Mandat für die Führung des Landes geben ihnen gerade die Regionen.
Es ist weitaus einfacher, die hauptstädtischen Proteste aus dem aktuellen sozial-ökonomischen Kontext herauszureißen und als ein „Ins-Schlingern-bringen des Bootes“ darzustellen. Die Herrschenden haben dies bereits so im Jahr 2012 getan, im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen. Damals hatte man sehr geschickt der „prowestlichen“ Moskauer Intelligenz mit den weißen Bändchen „patriotische“ arbeitende Kerle aus dem Uralwaggonwerk und anderer Unternehmen entgegengestellt, die bereit waren, jeden Augenblick in die Hauptstadt zu kommen, dem Office-Plankton und den Studenten die Werte-Hierarchie zu erklären sowie die Errungenschaften der satten Null-Jahre zu verteidigen.
Die Umfrage des Levada-Zentrums zeigt, dass die Herrschenden auch jetzt eine soziale Basis haben, um erneut dieses Instrument zu verwenden. Die Aktionen der Opposition als Antwort auf den „Nawalny-Fall“ lösen nach wie vor bei einem recht begrenzten Personenkreis Mitgefühl aus. Es gelingt, sie zu mobilisieren, sie zu vereinigen – für eine kurze Zeit. Aber weder die investigativen Nachforschungen von Nawalny noch die Geschichte seiner Festnahme erweitern den Kreis der Unzufriedenen. Für die Menschen außerhalb dieser Gruppe ist das Narrativ der Herrschenden über die jüngsten Ereignisse durchaus genug. Es fügt sich in ihr Weltbild ein und veranlasst sie nicht, zusätzliche Informationen zu erfragen.