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Über die Taktik eines Boykotts der Verfassungsänderungen


Warum die Opposition nicht bereit ist, die Bürger davon zu überzeugen, gegen die Änderungen am Grundgesetz zu stimmen

Die Abstimmung zu den Verfassungsänderungen findet am 1. Juli statt. Laut Umfragen des Allrussischen Meinungsforschungszentrums (VTsIOM) sind 67 Prozent der russischen Bürger bereit, an dieser teilzunehmen. Und für die Verfassungsänderungen zu votieren, sind 61 Prozent bereit. In diesem Zusammenhang veröffentlichte die „Nesawisimaya Gazeta“ einen redaktionellen Beitrag zur Position der Opposition. 

Bekanntlich wird die größte parlamentarische Oppositionspartei – die KPRF – die Änderungen nicht unterstützen. Diese Entscheidung hat das Parteipräsidium bekanntgegeben.  

In der Zentralen Wahlkommission berichtete man, wie die Volksabstimmung zu den Verfassungsänderungen erfolgen wird. Innerhalb der Opposition gibt es keine einheitliche Meinung dazu, ob man das Plebiszit boykottieren oder doch an ihm teilnehmen und sich gegen die Änderungen aussprechen solle. Für einen Boykott plädierten beispielsweise Alexej Nawalnyj, Dmitrij Gudkow und die Partei „PARNAS“. 

Die Pandemie und die Verschiebung des Plebiszites – so hatte es den Anschein – haben der Opposition Zeit zur Vorbereitung beschert. Die „Nichteinverstandenen“ hatten zusätzliche zwei Monate bekommen, um die Bürger davon zu überzeugen, gegen die Änderungen zu votieren. Die Opposition erhielt ein potenzielles zusätzliches Online-Publikum. Die Bürger nutzen während des Regimes der Selbstisolierung mehr das Internet und die sozialen Netzwerke, wo die Gegner der Herrschenden traditionell stark seien, wie sie selbst meinen. 

Diese Zeit wurde jedoch nicht genutzt. Das Thema der Abstimmung wurde auch im Diskurs der Opposition zu einem marginalen. Sie setzte auf die Kritik der sozial-ökonomischen Politik der Offiziellen während der Pandemie, was ihr in der kurzfristigen Perspektive keine Punkte einbrachte. Das Thema der Verfassungsänderungen seinerseits ist nirgendwohin verschwunden. Es war klar, dass das Plebiszit früher oder später stattfinden wird und die Bürger ohne Erfahrungen des Lesens des Grundgesetzes nicht proportional über die vorbereiteten Veränderungen informiert sein werden.Von den Offiziellen erfahren sie lediglich, warum man für die Änderungen stimmen müsse und womit dies dem Lande helfen werde.  

Ein Boykott kann sich als eine starke Geste erweisen. In Wirklichkeit aber wird er eher die Schwäche der Opposition widerspiegeln. Sie versteht es, mit ihrem gewohnten – dem Internet-Publikum zu kommunizieren, dem man nicht einmal erklären muss, warum man gegen die Änderungen auftreten müsse. Die Opposition hat jedoch keine funktionierende diskursive Strategie, die geholfen hätte, das breite Publikum von etwas zu überzeugen. Das Setzen auf das Abstimmen „dagegen“, dies ist eine Teilnahme an einem politischen Match gegen die Offiziellen auf dem gegnerischen Feld mit dem großen Risiko zu verlieren. Ein Boykott ist eine simple Lösung: Das Match wird einfach nicht ausgetragen, und man kann endlos zu dem Thema spekulieren, wie sich alles ergeben hätte, wenn die Bedingungen für die Opposition günstige gewesen wären. 

Ein Teil der Opposition hat bereits die Boykott-Taktik bei Wahlen auf unterschiedlicher Ebene eingesetzt. Und es fällt schwer, sich daran zu erinnern, auf welche Art und Weise dies ihrer Sache geholfen hat. Funktioniert hatten gerade aktive taktische Varianten. Das vorgeschlagene Abstimmen war jedoch stets eine Form von Protest. Vorgeschlagen wurde, jeglichen Kandidaten, außer von der regierenden Partei oder den stärksten Oppositionär im Bezirk zu unterstützen. Solch eine Entscheidung ist formal und inhaltslos. Der Vorschlag, gegen die Verfassungsänderungen zu stimmen, erfordert seinerseits gerade eine aussagekräftige Message. „Warum dagegen?“, „Was konkret ist nicht in Ordnung?“

Der Sekretär des ZK der KPRF, Sergej Obuchow, sagte gegenüber der „NG“ Folgendes: „Gegenwärtig sehen wir, dass bei dieser Abstimmung eine Kontrolle nicht möglich ist. Und die Änderungen sind mit Ausnahme des Resets (der bisherigen Amtszeiten von Präsident Wladimir Putin zwecks einer möglichen Wiederwahl – Anmerkung der Red.) alles ein Betrug und ein gewisser „Köder“… Die Abstimmung, das ist alles nur ein Zertifikat für Putin zur Unterstützung seiner Änderungen“. Zuvor hatte ähnliche Gedanken der Vorsitzende von „Jabloko“, Nikolaj Rybakow gegenüber dem Internetportal Znak.com geäußert: „Die Konsequenzen, die sich für den Staat nach dieser Abstimmung ergeben werden, sind lediglich der Reset der Amtszeiten von Wladimir Putin, denn alle übrigen Änderungen haben keinerlei rechtlichen Sinn. Schließlich sind sie auch heute schon in unserer Gesetzgebung. Sie werden nur nicht umgesetzt.“

Wahrscheinlich ist dies das Wichtigste im Verständnis der Boykott-Taktik. Die Opposition offeriert dem breiten Publikum keine aussagekräftige Kritik an den Änderungen, da sie das Plebiszit als ein Vertrauensreferendum für Putin auffasst – und nur als dieses. Mehr noch, sie ist der Annahme, dass auch das Putin-Elektorat in der Abstimmung gerade dieses Motiv ausmache und darauf reagieren werde. Putin auf diesem Feld jetzt zu bezwingen, scheint unmöglich zu sein. Einfacher ist es, nicht zu spielen. 

http://www.ng.ru/editorial/2020-06-03/2_7877_editorial.html