Die Ärzte aus der deutschen Klinik Charité haben erklärt, dass Alexej Nawalnyj den durchgeführten Analysen nach zu urteilen durch einen Wirkstoff aus der Gruppe der Cholinesterase-Hemmer vergiftet wurde. Die konkrete Substanz haben sie bisher nicht gefunden. Zuvor hatten russische Ärzte ihre Arbeitsdiagnose gestellt: eine Stoffwechselstörung, ausgelöst durch eine akute Verringerung des Blutzuckerwertes.
Die zwei Diagnosen entsprechen auch den zwei Typen des politischen Narrativs. In Europa und den USA ruft man Moskau auf, schnell aufzuklären, wer Nawalnyj vergiftete. Einige Politiker und Medien behaupten, dass man gegen Russland jetzt neue Sanktionen verhängen müsse. Die russische herrschende Elite ist ihrerseits geneigt, jegliche Schlussfolgerungen über eine Vergiftung als übereilte anzusehen, und die Verdächtigungen an ihre Adresse – als beleidigende.
Die ganze Wahrheit darüber zu erfahren, was mit Alexej Nawalnyj geschah, wird äußerst schwierig werden. Er ist eine politische Figur, und alles, was sich mit ihm ereignet, wird augenblicklich in ein kompliziertes Netz von in miteinander in einem Konflikt stehenden Interpretationen eingetaktet, deren Hauptmotiv im Vorhinein bekannt ist. Im Kampf um die Macht erlangt ein Mensch zusätzlich zum physischen Körper sozusagen auch noch einen zweiten, einen politischen Körper. Und der lebt entsprechend besonderer Gesetze.
Der in ein Koma gefallene Nawalnyj ist für die einen ein „Opfer des Regimes“, das zu allem bereit sei, nur um seinen lautstärksten Kritiker aus dem Wege zu räumen. Für andere ist er dagegen ein „sakrales Opfer“, das für die Opposition nötig sei. Der eine oder andere kann die Auffassung vertreten, dass der Fall mit Nawalnyj eine Warnung für die Gegner der Herrschenden sei: Seid wachsam! Fürchtet euch, selbst einen Tee oder Kaffee zu bestellen, da ihr sonst weder Tag noch Stunden kennen werdet… Man kann den Vorfall auch als ein Zeichen für Nawalnyj an sich auffassen: Es ist an der Zeit, das Land zu verlassen. Der Narrative gibt es eine Vielzahl. Nicht alle sind (letzten Endes) wahrhaftige. Im Raum der öffentlichen Diskussion werden sie aber alle zu gleichwertigen und gleichbedeutenden.
Möglich ist noch eine Interpretationslinie, die einem unweigerlich in den Sinn kommt, da sich die Geschichten um die russischen Hacker, die Vergiftung der Skripals und nun auch des Zwischenfalls mit Nawalnyj entsprechend ähnlicher Szenarios entwickeln. Sie provozieren nicht einmal fast unweigerlich, sondern schüren erneut den Konflikt mit dem Westen an. Man kann sagen, dass dies den Politikern zum Nutzen gereicht, die gegen die Russische Föderation neue Sanktionen verhängen wollen. Aber es ist durchaus offensichtlich, dass auch in Russland solch ein Konflikt seine Benefiziare hat. Und dies sind die konservativen Kräfte, die in der Lage sind, Präsident Wladimir Putin zu beeinflussen.
Dies ist Konservatismus in einem rechten engen, spezifischen Sinne. Viele hochrangige Vertreter der bewaffneten Organe und Mitarbeiter der Geheimdienste begreifen, dass ihre politische Zukunft direkt davon abhängt, ob es gelingt, in Russland die starre Machtvertikale, das entstandene System der Beziehungen von Staat und Gesellschaft, die geschlossene Gesellschaft und den Diskurs von der „durch Feinde eingekesselten Festung“ zu bewahren (zu konservieren). Das Geschehen in Weißrussland wirkt wohl stark auf sie ein. Es wird offenkundig, dass bei einem derartigen Szenario die mit der alten Ordnung verbundenen Vertreter der bewaffneten Organe als erste unter die Walze der Erneuerung geraten werden.
Die Mehrheit der interessierten konservativen Vertreter der bewaffneten Organe teilt dieses Narrativ. Und die Entscheidung, sich auf einen radikalen Schritt einzulassen, auf eine Provokation, kann durch sie autonom getroffen werden. Diese Einflussgruppe kennt die Psychologie und Gewohnheiten Putins gut – und nutzt sie. Putin liefert seine Leute nie aus, selbst wenn sie nicht Recht haben. Und er liebt es nicht, sich unter Druck zu beugen, besonders seitens Europas und der USA. Es ist sich schwer vorzustellen, dass der russische Präsident als eine Reaktion auf Appelle beispielsweise von Angela Merkel oder des Weißen Hauses befiehlt, innerhalb kürzester Frist die Schuldigen an der Vergiftung Nawalnyjs zu finden und zu bestrafen.
Dies ist eine Interpretation, eine der möglichen. Allerdings ist die Situation in Weißrussland ein verständlicher Grund für eine Aktivierung der Vertreter der bewaffneten Organe und der Konservativen. Und der Diskurs der russischen Herrschenden, leicht in das Regime eines Konflikts mit einem äußeren Feind überzugehen, ist für sie ein durchaus gewöhnlicher.