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Über eine objektive Untersuchung des Nawalnyj-Falls


Das Auswärtige Amt Deutschlands fordert, dass Russland eine vollwertige Untersuchung der Vergiftung von Alexej Nawalnyj beginnt. Das Außenministerium der Russischen Föderation behauptet seinerseits, dass die deutsche Seite keine Informationen mitteile, und erwartet am Mittwoch Deutschlands Botschafter in Moskau, da es an der Zeit sei, „die Karten offenzulegen“. In Russland hat man die Vergiftung an sich bisher nicht als eine Tatsache anerkannt. Daher ist auch kein Strafverfahren eingeleitet worden. Der Vorsitzende der Nationalen medizinischen Kammer, Leonid Roschal, rief die deutschen Kollegen auf, eine gemeinsame Expertenkommission zu bilden, „um sich die Hauptursache für den Zustand Nawalnyjs anzuschauen“. Die Gattin von Alexej Nawalnyj, Julia, reagierte darauf, indem sie erklärte, dass die Ärzte in Deutschland die Ursache festgestellt hätten. Und dies sei eine Vergiftung. Und Roschal würde ihrer Meinung „als eine Stimme des Staates“ auftreten. 

Das, was mit dem Gründer der Stiftung für Korruptionsbekämpfung geschah, muss natürlich in erster Linie die russische und nicht die deutsche, französische oder US-amerikanische Gesellschaft interessieren. Die Vergiftung einer öffentlichen Figur, eines bekannten Politikers ist ein Ereignis von sozialer Relevanz. Man kann sie als eine Warnung, sogar als eine direkte Bedrohung für jeglichen auffassen, der versucht, hochrangige Staatsbeamte zu entlarven oder um die Macht im Land zu kämpfen. 

Kann man in Russland eine objektive Aufklärung erreichen und vollständige Informationen zum Fall Nawalnyjs bekommen? Es gibt Gründe, daran zu zweifeln. Die Reaktion der europäischen Länder und der USA sind ein direkter Druck auf die russischen Offiziellen. Es ist gut bekannt, wie gerade sie sich gewöhnlich in solch einem Umfeld verhalten. Die russischen Herrschenden – und in erster Linie Präsident Wladimir Putin – mögen es nicht, etwas unter Druck zu tun. Je stärker der Druck der westlichen Politiker, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass man in der Russischen Föderation wirklich anfängt, die Schuldigen am Vorgefallenen mit Nawalnyj zu suchen. 

Für die russischen Herrschenden ist es unter derartigen Umständen einfacher, wie die Praxis zeigt, sich auf einen Austausch von Informationsschlägen einzulassen („Dies sind nicht wir, die die Aufklärung verschleppen, sondern Sie!“) und in einen Konflikt der Interpretationen zu treten. Als Antwort auf die Version von einer Vergiftung mit „Nowitschok“ können die wundersamsten Gegenversionen vorgelegt werden, in denen sowohl der Westen als auch die Opposition sowie Chodorkowskij und wer noch nicht alles vorkommen. Es ist sehr schwer zu erwarten, dass die Ergebnisse der eigenen russischen Untersuchung, wenn man sie vornimmt, mit den Ergebnissen der deutschen übereinstimmen werden.

Der äußere Druck wird die russischen Offiziellen nicht zwingen, die Wahrheit darüber in Erfahrung zu bringen, was mit Nawalnyj geschah, und sie der Gesellschaft vorzulegen. Sie ist im Übrigen auch in mehrere Teile gespalten. Der eine traut a priori nicht dem Staat und wird keinerlei Untersuchungsergebnissen außer selbstentlarvenden vertrauen. Ein anderer weist rundweg die Version von einer Beteiligung der Offiziellen an irgendwelchen Vergiftungen zurück. Und schließlich möchte irgendein dritter gern dem Glauben schenken, dass die russischen Herrschenden etwas mit derartigen Sachen zu tun haben können. Dieser Teil der Gesellschaft wird jegliche Argumente zugunsten dessen akzeptieren, dass Nawalnyj „selbst erkrankte“, denn Beweise für das Gegenteil lösen eine Frustration aus. Und es ist klar, wie man damit leben soll. 

Das Levada-Zentrum hat in der vergangenen Woche Angaben einer Untersuchung veröffentlicht, die den politischen Vorlieben der Bürger galt. Auf die Frage, für wen von den Politikern sie bei Präsidentschaftswahlen stimmen würden, antworteten 40 Prozent der Befragten: „für Putin“. Für Nawalnyj – 2 Prozent. Zwischen ihnen lag Wladimir Schirinowskij mit 4 Prozent. Dies ist ein gewaltiger Abstand. Da ergibt sich also, dass es in Russland keine bekannten öffentlichen Politiker gibt. 41 Prozent der Befragten machen Menschen aus, die entweder nicht wissen, für wen stimmen, oder nicht zu den Wahlen gehen werden. Man kann aber nicht den automatischen Schluss ziehen, dass es solch ein Bedürfnis nach einer Erneuerung der öffentlichen Politik gibt. Möglicherweise ist dies bloß eine politische Apathie, eine Gleichgültigkeit. 

In solch einer Atmosphäre werden die Herrschenden auch keinem inneren Druck, keinem Pressing seitens der Gesellschaft an sich ausgesetzt. Das Bedürfnis nach Ruhe, nach einer Distanz von der Welt der Politik ist genauso stark in ihr wie auch das Bedürfnis nach Wahrheit, Gerechtigkeit sowie Achtung gegenüber den Rechten und Freiheiten. Gesellschaftliches Engagement und Leidenschaftlichkeit finden vorerst nur lokale Erscheinungsformen. Jeder Politiker mit Ansprüchen auf einen föderalen Charakter erscheint als ein verletzbarer und schutzloser.