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Über Russland in der Rolle eines globalen Robin Hoods


Russlands Präsident Wladimir Putin erklärte bei seinem jüngsten Auftritt während der Plenartagung des 7. Östlichen Wirtschaftsforums in Wladiwostok, dass der kollektive Westen die tektonischen Bewegungen in der Weltwirtschaft und den internationalen Beziehungen – darunter die gestiegene Rolle der Staaten der asiatisch-pazifischen Region – nicht anerkennen wolle. Der Westen versuche, unterstrich Putin, die für ihn vorteilhafte Weltordnung zu bewahren, treffe mit den Sanktionen gegen Russland die eigenen Bürger und würde sich gegenüber den Entwicklungsländern nach wie vor wie zu Kolonien verhalten.

Der russische Präsident führte als Beispiel das ukrainische Getreide an. Wenn es nicht die Vermittlerrolle der Türkei gegeben hätte, wäre beinahe das gesamte Getreide nicht an arme Länder, sondern in die Europäische Union gelangt. Die USA, Großbritannien und die Europäische Union seien, meint Putin, „von illusorischen politischen Ideen besessen. Und das Wohlergehen der eigenen Bürger und umso mehr der Menschen außerhalb der sogenannten goldenen Milliarde rücken sie überhaupt in den Hintergrund“.

Die angespannten Krisenbeziehungen der russischen Offiziellen mit den westlichen Eliten dauern bereits nicht erst ein Jahr an. Die ukrainische Zuspitzung wurde zum Höhepunkt dieses Prozesses und in dem einen oder anderen wahrscheinlich gar zu einem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt. All diese Zeit offeriert die Führung der Russischen Föderation eine Matrix für die Interpretierung des Konflikts mit dem Westen. In erheblichem Maße ist diese Message an das Inlandspublikum gerichtet, das man mobilisieren müsse, wobei unter anderem die Notwendigkeit dessen, dass ein und dieselben Menschen an der Macht sind („es ist nicht die Zeit, während das Land von Feinden umgeben ist“), und die Pflicht eines Ausschlusses jener aus dem politischen Prozess, die mit solch einer Lage der Dinge nicht einverstanden sind („die fünfte Kolonne“, „Agenten des Westens“, „Extremisten-Revolutionäre“) erklärt werden.

Jedoch gibt es auch Matrizen, die man, wie gedacht wird, im Ausland verstehen und akzeptieren kann. Beispielsweise hatte Russland – vertreten durch Macht besitzende Sprecher – in den letzten Jahren begonnen, sich als einen der Vorreiter des internationalen Konservatismus zu positionieren. Man kann sagen, dass dies eine Antwort auf die Vorwürfe hinsichtlich Verletzungen von Menschenrechten war. Die russischen Offiziellen erklärten, dass sie die Traditionen verteidigen würden. Und dabei könne man sie nicht nur in Asien oder Afrika verstehen, sondern auch in den westlichen Ländern an sich, wo rechtskonservative Politiker einen Teil des Establishments ausmachen. Anders gesagt: Russland transferierte den Konflikt mit dem Westen aus dem Zivilisationsregime in ein normales politisches und Werte-Regime.

Putins Worte von einem Ignorieren der Armen und von einem Kolonialismus kann man als eine neue Interpretationsmatrix ansehen, die die Außenwelt zu begreifen imstande ist. Und nicht nur das Inlandselektorat. Im weltweiten politischen Diskurs kommen alle vom russischen Präsidenten formulierten Thesen vor. Es gibt einen Konflikt zwischen den alten Wirtschaftsplayern und den neuen. Es gibt das Problem der Ungleichheit und gar einer katastrophalen Armut. Und natürlich verspüren die Einwohner der westlichen Länder die Konsequenzen der wirtschaftlichen Turbulenzen und können dies ihren Herrschenden vorwerfen.

Es ergibt sich da, dass Russland in diesem Koordinatensystem zu einem „Verteidiger der Armen und Geächteten“ wird. Es ist bereit, die hungernden Afrikaner zu verpflegen, doch die „goldene Milliarde“ lasse sich Getreide zukommen. Russland kann die Europäer im kalten Winter aufwärmen, deren Herrschenden jagen aber politischen Phantomen hinterher. Russland wird zu einem globalen Robin Hood. Wenn man diese Matrix akzeptiert, so kann man wahrscheinlich auch die ukrainischen Ereignisse nicht so interpretieren, wie dies die westlichen Politiker tun.

Man kann von einem Rollback des Diskurses zu den Zeiten der UdSSR und von einer weltweiten Polarisierung sprechen. Es verringert sich einfach die Temperatur der ideologischen Auseinandersetzung. In den Vordergrund rückt der wirtschaftliche Pragmatismus. Dabei wandelt sich die äußere Polarisierung zu einer inneren, besorgniserregenden und gefährlichen. Putin selbst sagt, dass die entstandene Situation die Menschen nötige, „sich hinsichtlich ihrer Haltung festzulegen“. Und die Auftretenden in den politischen Talk-Shows des russischen Staatsfernsehens schlagen vor, die Ukraine zu einem terroristischen Staat zu erklären, damit man mit allen, die die seit dem 24. Februar laufenden militärischen Sonderoperation Russlands noch nicht unterstützt haben, entsprechend dem Gesetz abrechnen kann.