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Ungerechte Strafen kommen Russlands Staatshaushalt teuer zu stehen


Das Oberste Gericht Russlands hat verboten, vorsätzlich die Entschädigungszahlungen für die Bürger, die widerrechtlich strafrechtlichen Repressionen ausgesetzt wurden, gering zu halten. Gleichfalls ist darauf hingewiesen worden, dass man auch eine Wiedergutmachung von Ansehensverlusten fordern könne. Zu denen rechnete das Oberste Gericht die öffentliche Verurteilung, negative Publikationen und Bulling in den sozialen Netzwerken. Das Verfassungsgericht bestätigte dabei, dass unrechtmäßig Verurteilte berechtigt seien, eine vollständige Auszahlung des Arbeitsverdienstes zu fordern. Und obgleich die Gerichte den Rehabilitierten bisher selten auch nur mehr als 100.000 Rubel (umgerechnet knapp 1210 Euro) als Wiedergutmachung zubilligen, werden die unberechtigten Strafen offensichtlich teurer und drohen in der Perspektive, der Staatskasse keine geringen Verluste zu bescheren (die die Steuerzahler letztlich und nicht die Richter, die für die Fehlurteile verantwortlich sind, zu tragen haben – Anmerkung der Redaktion).

Der Schaden für den Rehabilitierten müsse durch den Staat im vollen Umfang und unabhängig von der Schuld jenes Organs, dessen Handlungen zur widerrechtlichen strafrechtlichen Verfolgung geführt hatten, wiedergutgemacht werden, hat das Oberste Gericht hingewiesen.

Dies bedeutet, dass einer finanziellen Wiedergutmachung auch die begleitenden Verluste unterliegen, darunter die Ansehensverluste. Solch eine Entscheidung hat das Oberste Gericht entsprechend der Beschwerde eines Einwohners des Swerdlowsker Verwaltungsgebietes getroffen, der nach einer Anklage wegen Fahrlässigkeit freigesprochen worden war. Im Ergebnis der langen Untersuchungen war er ohne Arbeit geblieben. Die Situation hatte auch die aggressive Verunglimpfung in der Presse und im Internet verschlimmert, wo man ihn als einen „miesen, gerissenen und feigen Mann, der nur an seinen Vorteil denke“ dargestellt hatte. Für alle ertragenen Leiden hatte das Kreisgericht ihm 1,8 Millionen Rubel Wiedergutmachung zugestanden. In der Berufsbehandlung aber war die Summe bis auf 100.000 Rubel heruntergedrückt worden, was auch in der Kassationsverhandlung bestätigt wurde.

Somit hatte die Position der Finanzbehörden gesiegt, die darauf bestanden hatten, dass dieser Bürger „das Bestehen eines realen Schadens nachweisen konnte“. Das Oberste Gericht hat jedoch alle diese Entscheidungen aufgehoben, wobei es erläuterte, dass jeder Schaden wiedergutgemacht werden müsse, der mit einer widerrechtlichen Verfolgung zusammenhänge, und nicht nur die Fehler der Untersuchungsbehörden. Daher müssten auch jegliche negativen Publikationen in den Massenmedien und selbst das Bulling in den sozialen Netzwerken eine Erhöhung des Umfangs der festzulegenden Zahlungen beeinflussen.

Zur gleichen Zeit hat auch das Verfassungsgericht in einem seiner Beschlüsse daran erinnert, dass die heutigen Gesetze den Rehabilitierten erlauben würden, vom Staat eine Wiedergutmachung des Arbeitsverdienstes für den gesamten Zeitraum der widerrechtlichen Verfolgung inkl. nicht nur der Dauer des Freiheitsentzugs, sondern auch der Zeit, die für die Suche nach neuer Arbeit nach der Freilassung notwendig ist, zu fordern. Freilich besteht das Problem darin, dass sich die Gerichte weigern, dies zu tun, wobei sie auf die Notwendigkeit für den Betroffenen bestehen, beispielsweise die direkte Verbindung der Entlassung mit den strafrechtlichen Untersuchungen zu beweisen. Und augenscheinlich hat aus diesem Grunde das Verfassungsgericht dieses Mal den Gesetzgeber daran erinnert, dass er die Möglichkeit habe, die Modalitäten für die Verteidigung des Rechts der Rehabilitierten auf eine Wiedergutmachung des Schadens zu vervollkommnen, das heißt derartige Gesetzeslöcher zu stopfen.

Nach Meinung des geschäftsführenden Partners der Rechtsfirma AVG Legal Alexej Gawrischjow habe scheinbar begonnen, sich eine gewisse positive Tendenz zugunsten der Rehabilitierten abzuzeichnen. Und obgleich die Berufungsgerichte aus Gewohnheit weiter die Höhe der Wiedergutmachungszahlungen beschneiden würden, „hat die Position der höchsten Instanzen in dieser Frage eine Schlüsselbedeutung“. Das heißt: Das Institut der Rehabilitierung wie auch das Institut der Wiedergutmachung eines moralischen Schadens würden sich derzeit im Stadium einer Entwicklung befinden, und die Justiz, die gezwungen ist, sich von den Anweisungen des Obersten und des Verfassungsgerichts leiten zu lassen, „immer wieder immer wesentlichere Summen an Wiedergutmachungen festzulegen“, merkte er an.

Der Jurist Sergej Sawtschenko ist der Auffassung, dass sich solch eine Situation ergebe, in der der anklagende Charakter bzw. das Fällen von Schuldsprüchen seitens der Rechtsprechung beginne, zum Schaden des gesamten Staatssystems zu wirken. Zuerst verfolgt man unbegründet Menschen, sperrt sie in der Regel in U-Haft-Anstalten, wo sie mit einer Verletzung von rechten, Druck oder gar Foltern konfrontiert werden. Es ist klar, dass dann, wenn sie eine Rehabilitierung zu erreichen suchen, die Versuche unternommen werden, dafür im vollen Umfang vom Staat eine Wiedergutmachung zu bekommen. Aus dieser Gesamtheit von Ungerechtigkeiten könnten die Offiziellen durchaus beispielsweise die informationsseitige Diffamierung oder die harten Sicherungsmaßnahmen ausschließen. Jedoch existieren solche Alternativen wie eine Kaution oder eine persönliche Bürgschaft, die im Gesetz festgehalten worden ist, überhaupt nur auf dem Papier, wobei sie in der Praxis fast gar nicht angewandt werden. Und da bereits auch das Oberste Gericht von gerechten und vollständigen Wiedergutmachungen spricht, so wäre es für den Staat logischer, unterstrich Sawtschenko, die Neigung zu repressiven Handlungen zu zügeln, um nicht der eigenen Staatskasse Verluste zuzufügen.

Das Oberste Gericht habe eine richtige Position eingenommen, erläuterte Wladimir Kusnezow, Vizepräsident der Vereinigung von Juristen für Registrierung, Liquidierung, Insolvenz und gerichtliche Untersuchungen. Er erinnerte daran, dass in den Fällen ähnlich dem Swerdlowsker in der Regel nicht nur der ungerechterweise Verurteilte, sondern auch seine Familie, die Kinder leiden würden. Die Forderungen des Obersten Gerichts müssten nach seiner Meinung den Prozess der Anklageerhebung beeinflussen, sagen wir einmal durch eine „härtere und qualitativere Kontrolle seitens der Staatsanwaltschaft bei der Bestätigung von Anklage-Schlussfolgerungen, die an die Gerichte übergeben werden“. Er stimmt dem zu, dass die Entwicklung der für die widerrechtlich Verurteilten positiven Praxis größerer Wiedergutmachungen dazu führen könne, dass die unberechtigten Handlungen konkreter Amtspersonen beginnen, negative finanzielle Folgen für den Staatshaushalt zu verursachen.

Der Präsident des Moskauer internationalen Anwaltskollegiums „Potschujew, Selgin & Partner“, Alexander Potschujew, erinnerte die „NG“ daran, dass im Kontext des offenkundigen anklagenden und verurteilenden Charakters des Gerichts- und des Rechtsschutzsystems die Verurteilung von Unschuldigen eine gewöhnliche und Routineerscheinung sei. Und die Summen, die vom Fakt her die gleichen Gerichte zugunsten der Rehabilitierten festlegen, seien im Vergleich zu deren Verlusten und umso mehr ihrer Leiden, die die widerrechtliche strafrechtliche Verfolgung bescherte, lächerlich. Nach seiner Meinung bestehe eine wichtige Frage in der persönlichen Verantwortung jener, die unbegründete Verfolgungen zulassen würden. Leider würden aber weder der Gesetzgeber noch die höchsten Gerichte auf diese Frage vorerst keine eindeutigen Antworten geben.

Wie Veronika Schirnina, Mitglied der Juristenvereinigung Russlands, gegenüber der „NG“ erklärte, „werden die Gerichte oft mit der Notwendigkeit konfrontiert, objektiv den Umfang einer Wiedergutmachung des moralischen Schadens für einen Rehabilitierten zu bestimmen, was mit jedem Jahr immer mehr Probleme hervorruft“. Von einer „maximal vollständigen Wiedergutmachung“, erinnerte sie, sei in einem Beschluss des Plenums des Obersten Gerichts noch aus dem Jahr 2011 die Rede. Die Richter wurden bereits damals darauf hingewiesen, dass sie verpflichtet sind, dem Charakter der zugefügten physischen und moralischen Leiden besondere Aufmerksamkeit zu schenken, aber auch einzelne Besonderheiten der Lage der Rehabilitierten zu berücksichtigen. Bisher werden aber die meisten Entscheidungen auf die Festlegung minimaler Summe reduziert. Beispielsweise gab es zu den mehr als 500.000 Schuldsprüchen des Jahres 2020 nicht mehr als 0,3 Prozent an Freisprüchen bzw. Urteilen zur Ablehnung von Anklagen. Die Gerichtsstatistik für das gleiche Jahr zeigt, dass sich zwecks Wiedergutmachung des Schadens rund 2000 Rehabilitierte an Gerichte gewandt hatten. Etwa 1200 solcher Anträge wurde stattgegeben, und in 203 Fällen wurden diese abgewiesen.

„Haben alle für unschuldig Erklärten ihr Recht auf Rehabilitierung in Anspruch genommen? Ich denke nicht, dass es viele nach der strafrechtlichen Verfolgung wagen werden, dem Staat noch einmal ihre Unschuld zu beweisen, wobei sie eine Wiedergutmachung für den materiellen und moralischen Schaden einfordern, der durch die widerrechtlichen Handlungen zugefügt worden war“, unterstrich wiederum der Leiter des Rechtskollegiums „Weiße Eule“ Denis Chusiachmetow. Nach seinen Worten würden sich ungeachtet aller Erläuterungen des Obersten Gerichts die Gerichte der unteren Instanzen weiter an solch eine Herangehensweise halten: „Ein Jahr im Gefängnis oder ein ernsthaft untergrabenes Ansehen kostet nicht mehr als 100.000 Rubel“.