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Von einer Beschwerde bis zur Streichung einer Aufführung – ein Schritt


Heute ist eine Beschwerde ausreichend, um eine Inszenierung für immer aus dem Repertoire gleich nach den Premierenaufführungen zu streichen. Das russische Publikum versetzt schon nicht mehr eine neue Meldung über die Absetzung einer Inszenierung in Erstaunen. Keiner – weder das Publikum noch die Schauspieler – versucht zu protestieren. Und die Theater an sich leisten keinen Widerstand. Unwichtig ist, dass Gelder ausgegeben wurden, dass die Inszenierung eine gelungene ist. Und hunderte Zuschauer sind zufrieden, nur einer hat sich empört… Obgleich man glauben sollte, dass es eben auch ein Theater ist, um den Zuschauer nicht als einen gleichgültigen zu belassen.

Ein letztes Beispiel ist die Inszenierung „Das Verbrechen auf der Ziegeninsel“ („Delitto all‘isola delle capre“) im Bratsker Schauspielhaus, die nach dem gleichnamigen Stück des italienischen Autoren Ugo Betti auf die Theaterbretter gebracht wurde. Das Werk ist kein superzeitgenössisches. Der Text handelt davon, wie in einer Nachkriegsfrauengesellschaft ein Mann auftaucht, und wurde 1946 verfasst. In Russland hatte erstmals Dmitrij Tschernjakow das Stück im Nowosibirsker Theater „Rote Fackel“ inszeniert. Und im Verlauf von 20 Jahren war es – stets mit Erfolg – in unterschiedlichsten Städten zu sehen.

Wie in jeder Inszenierung nach einem Drama aus dem 20. Jahrhundert ist die Textfassung des Regisseurs angereichert mit Symbolen, mit Allusionen, die offensichtlich der mit einem geringen kulturellen Wissen ausgestattete Zuschauer als „Inzest, Zoophilie und Pornographie“ auffasste und sich in den sozialen Netzwerken empörte. Und das Theater hielt es daher für besser, „Das Verbrechen auf der Ziegeninsel“ aus dem Spielplan zu nehmen. Die Schauspieler sind fassungslos. Obgleich die Arbeit eine kräftezehrende gewesen war, wollen sie spielen. Die Theaterleitung teilt aber mit: „Augenscheinlich haben wir es übereilt, dieses Material Bratsk vorzustellen“.

Der Weg von der Beschwerde eines Zuschauers bis zum Canceln einer Inszenierung, zwischen denen früher Proteste, Untersuchungen, eine Expertise und gar Gerichtsverhandlungen (erinnert sei nur an den Fall mit „Tannhäuser“ aus dem Jahr 2015) lagen, hat sich bis auf ein Minimum verringert. Allein in der laufenden Spielzeit hat es in Russland genug derartige Fälle gegeben. Und was für welche! Im Nowosibirsker Ersten Theater traf es eine Aufführung für Minderjährige. Die Regisseurin nutzte den bekannten Kunstgriff der Verfremdung und vertraute alle Rolle – inklusive die der Prinzessin – Männern-Schauspielern an. Da irgendwer in der Inszenierung ein Propagieren des LGBT-Themas auszumachen meinte, wurde sie aus dem Repertoire gestrichen. Die Meinung des Expertenrates, der sie wahrscheinlich unterstützte (das Protokoll seiner Sitzung wurde nicht veröffentlicht), wurde nicht berücksichtigt.

Aber was sind da die Regionen angesichts dessen, was es für Fälle in den Hauptstädten gab! Die „Öffentlichkeit“ verlangt, den Namen von Boris Akunin aus dem Spielplan zu streichen (im Petersburger Alexander-Theater), Lija Achedshakowa von der Bühne zu entfernen. „Auftrag erfüllt!“ Das Kulturministerium, der offizielle Gründer des Alexander-Theaters, betont, dass eine große Anzahl von Beschwerden von Bürgern eingehen würde, die „die Präsenz derartiger Vertreter (die nicht mit den Handlungen der Offiziellen der Russischen Föderation in der Ukraine einverstanden sind – „NG“) in Informations- und Werbematerialien staatlicher Einrichtungen empört“. Solche Schreiben „kann man nicht ignorieren“. Folglich ist die Entfernung von Namen aus den Theaterspielplänen „gesetzmäßig“. Der Direktor des Theaters „Sowremennik“, in dem Achedshakowa 40 Jahre arbeitete, rechtfertigt sich flau damit, dass man ihn mit Briefen gegen die Schauspielerin überschüttet hätte. Die hat bereits mitgeteilt, dass sie eine Kündigung eingereicht hätte, obgleich – ein außerordentlicher Fall – auch jene sich zu Wort meldeten, die für sie eintreten. Tausende Mitteilungen gingen zur Unterstützung der Volksschauspielerin ein. Üblicherweise schweigt doch das Volk.

Es ist schwer zu sagen, wie sich die Theater bei der Berichterstattung und Rechenschaftslegung aus der Affäre ziehen. Schließlich wird jede Inszenierung bei der staatlichen Aufgabenstellung berücksichtigt, deren Umsetzung der Bühne eine Finanzierung für die kommende Spielzeit garantiert. Ausgegeben wurden Gelder, und nicht wenige. Die werden aber niemals „eingespielt“. Dekorationen verrotten oder werden entsorgt. Und mehrere Wochen Arbeit der Schauspieler sind umsonst bezahlt worden. Außer dem Wirtschaftsfaktor gibt es auch einen juristischen. Eine Zensur ist in Russland bisher nicht offiziell eingeführt worden. Bei den Inszenierungen werden stets Altersbeschränkungen ausgewiesen. Aber nach der Annahme der Grundlagen zur Verstärkung der traditionellen Werte riskieren die Versuche, auf den Bühnen das zu zeigen, was von irgendwem als „jegliche Abscheulichkeiten“ aufgefasst werden kann, Beschwerden auszulösen. Kann man aber die Meinung eines Zuschauers als einen Beweis für die Verletzung des Gesetzes oder als Zeichen dafür, dass man eine Inszenierung kurzfristig canceln muss, ansehen? Der Mechanismus für die Klärung dieser Frage ist durch den Gesetzgeber nicht definiert worden. Und die Theater ziehen es unter den gegenwärtigen Bedingungen vor, nichts zu riskieren und auf Nummer sicher zu gehen.