Die Ergebnisse der Wahlen zur Staatsduma (dem Unterhaus des russischen Parlaments – Anmerkung der Redaktion) sind zu etwas unerwarteten geworden. Es ist zu keiner gewohnten Reproduktion des 4-Parteien-Systems gekommen. Den Erfolg der Partei „Neue Leute“ erklärt man auf unterschiedliche Art und Weise. Man spricht unter anderem von einem treffenden Namen für das politische Projekt, auf den die Menschen reagiert hätten, die von der Unveränderbarkeit des Establishments müde geworden seien. Eine andere Erklärung ist die Realisierung des Bedürfnisses an einer Partei eines gemäßigt liberalen Charakters für das Business und die Verfechter der Marktwirtschaft.
Wahrscheinlich sind beide Erklärungen richtig. Die Staatsduma war all die letzten Jahren eine unausgewogene. Und es geht nicht nur um das vollkommene Dominieren der Kremlpartei „Einiges Russland“, das auch in der neuen Legislaturperiode gewahrt bleibt. Dies war eine Duma mit einer eindeutigen linkspopulistischen Orientierung und mit solch einem Set von Ideen und Menschen, vor deren Hintergrund die Vertreter von „Einiges Russland“ mitunter in der Rolle unpopulärer Reformer und Verfechter der Marktwirtschaft auftraten. Das Land und insbesondere die großen Städte entwickelten sich derweil. In ihnen setzte sich ein neuer, ein moderner Typ der Gesellschaft und des Konsums durch. Und diese Schicht war überhaupt in keiner Weise im Parlament vertreten gewesen.
Versuche, ein moderates liberales Projekt zu starten, wurden bereits von oben her unternommen. Es genügt, sich der Partei von Michail Prochorow zu erinnern, die es im ursprünglich geplanten Format nicht bis zu den Wahlen geschafft hatte. Neben allem anderen wurde das schwierige Umfeld der Wähler zu einem Problem. Das pragmatische „marktwirtschaftliche“ Elektorat hatte sich mit dem Menschenrechtselektorat verflochten. In diesem Jahr zogen die Herrschenden eine sehr klare Grenze zwischen zwei Typen von Wählern und Parteien: Wenn Sie von politischen Häftlingen und einer korrupten Herrschaft sprechen, so sind Sie ein ausländischer Agent und in der Perspektive – ein Krimineller. Wenn Sie aber das Business interessiert, die Steuern, so können sie auf den allgemeinen Grundlagen konkurrieren. Die „Neue Leute“ fügen sich in das zweite Modell ein. Ihren Erfolg und den Erfolg von „Einiges Russland“ muss man wahrscheinlich als Teile eines einheitlichen Ganzen sehen. Die Parteien hatten ein und denselben Kurator, einen sehr effizienten Polittechnologen höchsten Ranges.
Das Publikum hatte man auf den Erfolg der „Neuen Leute“ vorbereitet. Es hatten bloß wenige Aufmerksamkeit dem geschenkt, dass ihr Rating jede Woche ein wenig zunimmt. Man kann sagen, dass es ohne eine administrative Unterstützung und Billigung nicht die erforderliche Stimmenzahl gegeben hätte, um die Sperrklausel zu überwinden. Die „Neuen Leute“ haben eine gewisse liberal-politische Ausschreibung gewonnen. Und es macht Sinn, den Parteien Fragen zu stellen, die sie verloren haben, zum Beispiel „Jabloko“. Dies ist eine alte politische Marke. Dies ist eine Partei, deren Message im Großen und Ganzen genau an eben jenes Elektorat gerichtet ist oder gerichtet sein muss, wie auch die Message der „Neuen Leute“, das heißt an das Business und die Mittel-, die gebildete Klasse. „Jabloko“ als eine Struktur hat aber nichts getan, um dieses Elektorat zu gewinnen. Mit der Kritik an Nawalny haben die „Jabloko“-Vertreter den „außerparlamentarischen“, den „Nicht-System“-Wähler abgeschreckt. Und als Gegenleistung nichts erhalten, nicht einmal drei Prozent und damit auch in der Zukunft eine staatliche finanzielle Unterstützung.
„Einiges Russland“ hat ein Ergebnis gezeigt, das ihr erlaubt, alle für die Herrschenden nötigen Gesetze zu verabschieden. Im Großen und Ganzen sollten selbst der relative Erfolg der Kommunisten (sie haben mehr als im Jahr 2016 bekommen) und der Einzug der gemäßigten Liberalen in die Duma die Vertreter von „Einiges Russland“ nicht in Verlegenheit bringen. Die Herrschenden aber erhalten ein ausgewogeneres Parlament. Und dies ist wichtig für sie.
Die herrschende Elite und zusammen mit ihr auch die Partei „Einiges Russland“ entstanden auf dem Sammeln von Ideologien, von denen eine (beispielsweise der konservative Patriotismus) in einer oder anderen Zeit dominieren kann. Meistens verhalten sich die Offiziellen wie linke Populisten, besonders wenn Wahlen vor der Tür stehen. Der sozial-ökonomische Kontext veranlasst sie aber auch zu anderen, unpopulären Entscheidungen, unter denen die Rentenreform das markanteste Beispiel ist. In diesen Fällen ist es selbst bei Bestehen einer Verfassungsmehrheit besser, einen potenziellen liberal-marktwirtschaftlichen Partner in der Duma zu haben, als ihn nicht zu haben. Besser ist es, unpopuläre Maßnahmen wie auch spektakuläre außenpolitische Schritte als das Ergebnis eines gesellschaftlichen Konsens und nicht als den Willen einer politischen Kraft darzustellen.