Das Allrussische Zentrum für öffentlichen Meinungsforschung (VTsIOM) hat Daten einer Umfrage veröffentlicht, die der Haltung von Russlands Bürgern zur Sonderoperation in der Ukraine, die vor 100 Tagen auf Befehl von Präsident Wladimir Putin begonnen wurde, galt. 72 Prozent der Befragten erklärten, dass sie die Operation „eher unterstützen“. Diejenigen, die sie „eher nicht unterstützen“, sind laut VTsIOM-Angaben in den vergangenen Monaten weniger geworden. Im Februar waren es noch 25 Prozent, und jetzt sind es gerade einmal 18 Prozent.
Man kann natürlich annehmen, dass es dem Staat – nicht ohne die Hilfe einer bestimmten Kategorie von Massenmedien – gelungen ist, jene zu überzeugen, die, wenn man einmal den Pressesekretär des Präsidenten der Russischen Föderation, Dmitrij Peskow, zitiert, „Angst bekommen und nicht begriffen haben“. Es wird wohl aber kaum gelingen, dies glaubhaft zu verstehen. In den mehr als drei vergangenen Monaten haben sich die Spielregeln für die Medien und für alle, die es gewohnt gewesen waren, sich offen im öffentlichen Raum zu äußern, verändert, genauer gesagt: verschärft. Der Unwille, die Sonderoperation zu unterstützen, kann in irgendwelchen Fällen als ein Fake oder eine Diskreditierung der Streitkräfte der Russischen Föderation interpretiert und entsprechend neuen Gesetzen bestraft werden, in anderen Fällen aber kann die jeweilige Person einfach stigmatisiert werden. Man kann ihre Berufstätigkeit erschweren sowie das normale und gewohnte Leben stören. Dabei ist den Menschen eigen, was nicht nur für Russland charakteristisch ist, den anonymen Charakter von Meinungsumfragen zu bezweifeln. Heutzutage haben sich diese Zweifel nur verstärken können.
Beweiskräftig ist wohl auch nicht das Monitoring der Protestaktivitäten, zu denen VTsIOM im gleichen Bericht auch Angaben ausgewiesen hat. 79 Prozent der Befragten seien der Auffassung, dass Protestaktionen in ihrer Stadt oder Ortschaft derzeit „wenig wahrscheinlich“ seien. Dies kann man wohl kaum als einen Parameter für die Stimmungen in der Gesellschaft, die reale Haltung gegenüber den Herrschenden, besonders vor Ort, an der Basis ansehen. Dies ist eher ein Wert für Möglichkeiten. Die Menschen sehen und begreifen, dass derzeit Protestaktivitäten gelinde gesagt schwierig sind.
84 Prozent der Befragten erklärten gegenüber den Mitarbeitern des kremlnahen VTsIOM, dass sie heutzutage „wahrscheinlich“ nicht an Protestaktionen teilnehmen würden. „Elf Prozent würden „wahrscheinlich“ teilnehmen, was beinahe die Hälfte dessen ist, was im Dezember vergangenen Jahres der Fall gewesen war. Wichtig ist zu konstatieren, dass die Herrschenden bereits im letzten Jahr die politischen Daumenschrauben angezogen hatten. Gerade damals erfolgte eine Säuberung des Oppositionsfeldes, darunter auch eine gesetzgeberische. Aber etwaige Proteste konnte man in politische und sozial-ökonomische (zum Beispiel gegen die COVID-Restriktionen) unterteilen. Jetzt ist es auch damit schwer geworden. Jeglicher Protest kann als Diversionsakt in der nicht einfachen Zeit aufgefasst werden.
Bezeichnend ist das, wie sich die Befragten des VTsIOM das Hauptziel der sogenannten militärischen Sonderoperation in der Ukraine vorstellen. Dabei konnte nur eine Antwort gegeben werden, das heißt, es sollte sozusagen das Wichtigste aus den vorgeschlagenen Varianten ausgewählt werden. 40 Prozent erklärten da, dass das Ziel der Operation sei, „Russland zu verteidigen, die Ukraine zu entwaffnen und ihr nicht zu erlauben, bei sich NATO-Stützpunkte zu dislozieren“. 20 Prozent vertraten die Auffassung, dass das Wichtigste sei, die Bevölkerung des Donbass (die DVR und die LVR) zu schützen. Weitere 18 Prozent sprachen von einer Veränderung des politischen Kurses der Ukraine und deren Säuberung von den Nazis. (Die Möglichkeit, seine Variante zu nennen, hatten die kremlnahen Soziologen wohl von vornherein ausgeschlossen. – Anmerkung der Redaktion) Wichtig ist zu betonen, dass sich die Balance der Antworten seit Anfang März fast nicht verändert.
Alle Varianten der Ziele werden von den russischen Offiziellen genannt. Die Befragten des VTsIOM hatten hier nichts zu erfinden. Wichtig ist das Setzen der Prioritäten. Es erlaubt erstens, die Vermutung anzustellen, welche Begründung für die Sonderoperation eine hinreichende für eine massenhafte Unterstützung sein könnte. Zweitens kann man die Perspektive für den Abschluss der aktiven Phase des Konfliktes beurteilen. Das Erreichen welchen Ziels könnte beispielsweise ausreichend für eine Beendigung der Sonderoperation sein.
Die Umfrage des Allrussischen Meinungsforschungszentrums VTsIOM zeigt, dass das Argument bezüglich einer Entnazifizierung wahrscheinlich kein obligatorisches gewesen war. Für eine Unterstützung der Sonderoperation war das militärisch-geopolitischen Pushen der Gesellschaft in den letzten Jahren ausreichend gewesen. Die Bürger hätten JA gesagt, da „die NATO vor der Tür“ stehe. Solche Prioritäten bedeuten allerdings, dass ein Abschluss der Sonderoperation ohne eine Demilitarisierung der Ukraine, ohne eine Fixierung ihrer faktischen Niederlage möglicherweise von der Gesellschaft nicht verstanden wird. Solch einen Abschluss müsste man zusätzlich erklären. Und das Erreichen der Grenzen der einstigen ukrainischen Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk scheint für eine öffentliche Fixierung des Erfolges bereits unzureichend zu sein.