Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Was die Deutschen an Russland nicht verstehen


Ein einziger kurzer Zeitintervall des laufenden Jahres hat überaus wichtige Zäsuren in den russisch-deutschen Beziehungen in sich vereint. Im August wurde der Moskauer Vertrag von 1970 fünfzig Jahre alt, der eine entscheidende Wende in den Beziehungen der UdSSR und Westdeutschlands von einer Konfrontation zu einer Zusammenarbeit markierte und, wie gemeint wird, den Weg zur Vereinigung Deutschlands im Oktober 1990 bahnte. Ein anderes Datum ist der 30. Jahrestag der Unterzeichnung des Staatsvertrages zwischen der BRD und der DDR am 31. August 1990 über die Liquidierung der DDR, die Integrierung ihres Territoriums in den Bestand der Bundesrepublik Deutschland und über die deutsche Einheit. Der Vertrag hatte als Tag der Vereinigung den 3. Oktober 1990 festgelegt. 

Dem Thema des Moskauer Vertrags war ein spezielles Webinar – „Moskauer Gespräche online“ – gewidmet worden, das vom Deutsch-Russischen Forum e. V. organisiert worden war, einer gesellschaftlichen Organisation, die Politiker und Vertreter des öffentlichen Lebens beider Länder vereint. Während der Veranstaltung wurde betont, dass gerade der Moskauer Vertrag den Weg zur Vereinigung Deutschlands gebahnt hatte, und diese beiden Ereignisse der Entwicklung der russisch-deutschen Beziehungen im Verlauf der weiteren 50 Jahre einen Impuls verliehen. 

Leider hat das Thema des Moskauer Vertrages, der dank der Initiative solch eines großen westdeutschen Politikers wie des Sozialdemokraten Willy Brandt zu einer Realität geworden war, nur in wenigen Veröffentlichungen in Fachzeitschriften eine Widerspiegelung gefunden. 

Die Ursache des Geschehenen sei, wie die Teilnehmer*innen der Diskussionsrunde des Deutsch-Russischen Forums betonten, die gegenseitige Entfremdung der deutsch-russischen Politik. War der „Fall Nawalny“, der als ein Anstoß zu einer drastischen Verschlechterung der russisch-deutschen Beziehungen diente, zu einer so drastischen, dass er eine Reihe demonstrativer Schritte seitens der Außenministerien beider Länder auslöste, ein überraschender? Schließlich wurde zu einem konkreten Ausdruck der „Entfremdung“ die gegenseitige Einbestellung der Botschafter zwecks Abgabe von Erklärungen zur vermuteten Vergiftung Nawalnys. In diesem Kontext muss man wohl auch die Absage des bereits vor mehreren Monaten geplanten Berlin-Besuchs durch den russischen Außenministers Sergej Lawrow sehen. Dieser Besuch, der der Bilanzierung des zu Ende gegangenen deutsch-russischen Jahres der Wissenschafts- und Bildungspartnerschaften gewidmet werden sollte, hätte unter Berücksichtigung der denkwürdigen Daten zu einem wichtigen Meilenstein in der Entwicklung der Beziehungen beider Länder werden können.  

Nachdem Angela Merkel am 2. September erklärt hatte, dass Alexej Nawalny durch eine Substanz der „Nowitschok“-Gruppe vergiftet worden sei, begannen viele, von einem „Wendepunkt“ in den Beziehungen zwischen Russland und Deutschland zu sprechen, meint Sabine Fischer, Mitglied des Expertennetzwerkes EU-Russland für Außenpolitik (EU-Russia Expert Network on Foreign Policy – EUREN, im Jahr 2016 auf Initiative der EU-Delegation in Russland und des Russischen Rates für internationale Angelegenheiten gebildet – Anmerkung der Redaktion). Ihre Sicht auf die Situation legte sie in dem englischsprachigen Beitrag „Von der Gaspipeline zu Nawalny. Was der Kreml an Deutschland nicht versteht“ dar. Der Artikel wurde zuerst vom Carnegie Moscow Center veröffentlicht und ist Teil des von der Europäischen Union in Russland unterstützten Projekts „Russia-EU: Promoting Informed Dialogue“.

Tatsächlich aber liegen die Ursachen weitaus tiefer. In ihrem Beitrag erklärt sie: „Merkels Aussage war weniger ein Wendepunkt, sondern vielmehr ein weiteres Glied in einer Kette von Ereignissen, die das Vertrauen und die Bereitschaft Deutschlands untergraben haben, Russlands Positionen und seiner immer destruktiveren Politik entgegenzukommen“. Im Grunde genommen nennt Frau Fischer selbst die wahre Ursache für die begonnene Abkühlung der russisch-deutschen Beziehungen.

Sie schreibt: „Die NATO-Osterweiterung Ende der 1990er Jahre löste heftige Reaktionen aus, und Deutschland und Russland fanden sich plötzlich auf unterschiedlichen Seiten wieder“. Und weiter hat S. Fischer in ihren Behauptungen zweifellos recht, dass „Nach dem Ende von Gerhard Schröders Kanzlerschaft 2005 schwankten zwei aufeinanderfolgende Koalitionen unter Merkels Führung zwischen der traditionellen deutschen Konzentration auf Russland und der Sympathie für die europafreundlichen Demokratiebewegungen in Georgien und der Ukraine; … zwischen dem Bedürfnis nach einer strategischen Partnerschaft zwischen der EU und Russland und den Bemühungen der neuen EU-Mitglieder um die Stärkung der Beziehungen zu ihren östlichen Nachbarn“. Nach Meinung von Sabine Fischer hätten „diese Schwankungen … zu einem tieferen Verständnis der neuen östlichen EU-Nachbarschaft und zu einer immer skeptischeren Einstellung gegenüber den hegemonialen Ambitionen Russlands in der Region“ geführt. 

Vom Wesen her sind die konservativen Kräfte in Deutschland, die vor allem durch die Christdemokraten repräsentiert werden, in den 90er Jahren geblieben und wollten nicht die sich in der Welt vollzogenen Veränderungen berücksichtigen, die mit der Deglobalisierung und dem Entstehen neuer Kräftezentren in der internationalen Arena sowie mit der Verstärkung der Rolle Chinas und Russlands zusammenhängen. Die deutsche Expertin verbindet die Wende in den Stimmungen der in Berlin regierenden Partei mit der Rückkehr von Wladimir Putin in den Kreml im Jahr 2012. Sie konstatiert: „Erstmals waren die Entscheidungsträger in Berlin gezwungen, die Grundannahmen ihrer Politik gegenüber Moskau in Frage zu stellen – insbesondere die Möglichkeit, sich auf wertorientierte Weise einander anzunähern“.  

Zweifellos sollte Moskau mit aller Ernsthaftigkeit dieses Statement behandeln. Schließlich führt die Kette von Verbindungen zur Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, die als ein Berater der deutschen Bundesregierung in außenpolitischen Angelegenheiten gilt. Unter den sich herausbildenden Bedingungen bleiben dem Kreml schon nicht so viele Varianten für ein Manövrieren. Entweder wartet er einen Regierungswechsel in Deutschland und den Machtantritt von nüchterner zu den sich in der Welt vollziehenden Veränderungen eingestellten Kräften ab oder er sucht weiter die Möglichkeit eines Dialogs zu den Problemen, die dafür eine Möglichkeit lassen. Zumal die deutschen Experten selbst eingestehen, dass hinsichtlich der Herangehensweise an die Beziehungen mit Russland in Deutschland gestritten werde. 

Im Zusammenhang damit lohnt es sich, den Empfehlungen Gehör zu schenken, die während des Webinars „Moskauer Gespräche online“ geäußert wurden. Diese sind gerade eine Wiederaufnahme des Dialogs und eine Festigung des Vertrauens zwischen Moskau und Berlin. Obgleich alle verstehen, dass dies kein leichter und kein kurzer Weg sein wird.