Das Zweite Westliche Militärbezirksgericht hat die Regisseurin Jewgenija Berkowitsch und die Dramaturgin Swetlana Petrijtschuk (beide wurden in Russland in das Register von Extremisten und Terroristen im Verlauf des Prozesses aufgenommen) jeweils zu sechs Jahre Lagerhaft wegen angeblicher Rechtfertigung von Terrorismus (gemäß Teil 2 des Paragrafen 205.2 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation) verurteilt. Eingeleitet wurde das Verfahren im Frühjahr vergangenen Jahres im Zusammenhang mit der Theaterinszenierung des Stückes „Finist – heller Falke. Das Strafverfahren, das zum zweiten spektakulären auf dem Gebiet des russischen Kulturlebens der letzten Jahre nach dem Aufsehen erregenden „Fall des „Siebenten Studios““ (also gegen den bekannten Regisseur Kirill Serebrennikow & Co. – Anmerkung der Redaktion) wurde, dauerte mehr als ein Jahr an. Anhänger der 39jährigen Regisseurin veröffentlichten am 9. Juli im Internet ihre Erklärung, in der es unter anderem heißt: „Innerhalb von 14 Monaten Gefängnis haben wir sowohl ein Aufheben von Urteilen als auch eine Reduzierung von Haftstrafen gesehen. Wenn man nicht auf Berufungen hoffen kann, so auf Revisionen und höher“.
Während des Strafverfahrens waren die Sicherheitsmaßnahmen in Form einer U-Haft nicht geändert worden. Berkowitsch und Petrijtschuk saßen seit Anfang Mai des letzten Jahres in einer Moskauer U-Haftanstalt (und dies, obwohl Berkowitsch zwei angenommene Kinder hat – Anmerkung der Redaktion). Wenn der Berufung der Verteidiger nicht stattgegeben wird, werden die beiden Theaterfrauen bis zum Jahr 2029 in einem Straflager sitzen. Freilich können sie nach 40 Monaten Freiheitsentzug um eine Freilassung auf Bewährung ersuchen, was im September des Jahres 2027 denkbar ist. In dem am 8. Juli verkündeten Urteils des Richters Jurij Massin heißt es gleichfalls, dass im Verlauf von drei Jahren nach der eigentlichen Haftstrafe Berkowitsch und Petrijtschuk untersagt sein wird, sich mit einer Tätigkeit zu befassen, die mit dem Administrieren von Internetseiten verbunden ist.
Entsprechend der Version der Untersuchungsbehörden und der Anklage, hatte Petrijtschuk das Stück „Finist – heller Falke“ verfasst, in dem es Merkmale für eine Rechtfertigung und Propagierung einer terroristischen Tätigkeit gebe. Danach realisierten die Regisseurin und Dramaturgin gemeinsam die Inszenierung des Stücks, das öffentlich demonstriert wurde. Der Anklage lagen zwei Gutachten zugrunde. Das erste war aus dem sogenannten „Labor für Destruktologie“ der Moskauer staatlichen linguistischen Universität. Nachdem aber dieses Gutachten angesichts seines unwissenschaftlichen Charakters als unzulässiger Beweis eingestuft wurde, gaben die Untersuchungsbehörden ein Gutachten in der Verwaltung des Inlandsgeheimdienstes FSB für das Swerdlowsker Verwaltungsgebiet in Auftrag. Aus dem zweiten Gutachten folgte die Schlussfolgerung, dass die Regisseurin und Dramaturgin „extrem aggressive Ideologien des Islams“ vertreten und „eine positive Meinung über den Islamischen Staat“ (der in der Russischen Föderation verboten ist) prägen würden. Richter Jurij Massin, der das Urteil fällte, stimmte der Anklage zu, dass es in dem Stück „Finist – lichter Falke“ „Merkmale für eine Rechtfertigung von Terrorismus“ gebe und gab den angeklagten Frauen eine fast maximal mögliche Haftstrafe gemäß der angelasteten Straftat.
Es sei daran erinnert, dass das Theaterstück „Finist – heller Falke“ nach Motiven dokumentarischer Geschichten von russischen Bürgerinnen (unter anderem des Falls von Warwara Karaulowa) geschrieben wurde, die zu Opfern virtueller Anwerber-radikaler Islamisten, die sie nach Syrien locken, wurden. Die Heldinnen berichten über ihre persönliche Lebenskrise, die sie veranlasst, eine Ehe mit unbekannten „östlichen Prinzen“ aus sozialen Netzwerken einzugehen. Und im offenen Finale wird der Dialog eines Richters und der Hauptheldin, die in Russland wegen Unterstützung für Terroristen verurteilt wurde, vorgestellt. In dem Stück wurde visuell das Motiv des Märchenfilms (nach einem Märchen des sowjetischen Schriftstellers Nikolai Schestakow, kam 1975 in die sowjetischen Kinos – Anmerkung der Redaktion) verstärkt. Doch die Position der Autoren erklang absolut realistisch: das Märchen ist ganz und gar keine Lüge. Und die Anspielung entwickelte sich bis zu einem wahren Appell an den Zuschauer: Begehen Sie keine solchen Fehler! Gerade darüber, dass das Stück und dessen Inszenierung ein neues soziales Phänomen fixierten (die Verderblichkeit eines Sich-Begeistern an der virtuellen Realität, seiner märchenhaften Attraktivität mit unvorhersehbaren Folgen), aber auch, dass Informationen über die Ideologie von Terrorismus in einem Kunstwerk kein Beweis für ihre Billigung, für ihre Rechtfertigung und Propagierung seien, hatten alle Zeugen der Verteidigung beim Prozess gesprochen. Dies waren führende russische Kunstwissenschaftler, Schauspielerinnen der Inszenierung, aber auch Experten des nationalen Preises „Goldene Maske“, die auch das Werk „Finist – heller Falke“ für die bedeutendste russische Theaterauszeichnung nominiert hatten – für die Gestaltung der Inszenierung und den eigentlichen Text – nominiert hatten. Neben der „Goldenen Maske“ hatte ursprünglich auch der Verband der Theaterschaffende seine Ressourcen und Unterstützung für die Inszenierung gewährt. Eben diese Organisation hatte der Aufführung einen staatlichen Zuschuss bereitgestellt, und auf einer Bühne von ihr erfolgten auch die eigentlichen Aufführungen. Und weder von Zuschauern noch von Partnerorganisationen hatte es nicht ein einziges Mal Beanstandungen gegeben, genauso wie auch früher, als das Stück erstmals öffentlich präsentiert worden war. Allerdings hatten gerade damals, vor fünf Jahren die Sicherheitsorgane begonnen, es aufmerksam zu verfolgen, wie aus Materialien der Gerichtsverhandlungen folgt, die von den Verteidigern im Telegram-Messengerdienst veröffentlicht wurden.
Die Medien, die den Prozess verfolgten, lenken die Aufmerksamkeit darauf, dass die Anklage – vertreten durch Staatsanwältin Jekaterina Denissowa – außer Gutachten als Beweise für ihre Position zwei Zeugen vorführte, von denen einer (der Schauspieler Wladimir Karpuk – Anmerkung der Redaktion) nicht erklären konnte, wo es in dem Stück Merkmale für ein Propagieren von Terrorismus gibt. Und der andere, der anonym bzw. mit dem Pseudonym „Nikita“ auftrat, berichtete, dass er beim Inlandsgeheimdienst FSB eine Klage zusammen mit einer illegal vorgenommenen Aufnahme der Lesung des Stücks bei einem Wettbewerb von Theaterautoren eingereicht hatte. Damals hatte es also nicht einmal eine Inszenierung gegeben. („Nikita“ wollte seine Identität nicht preisgeben, da er selbst im Theaterbereich tätig ist und um seine weitere Karriere fürchtete, obgleich er keine Grundlagen für solche Befürchtungen vorlegen konnte. – Anmerkung der Redaktion) Bemerkenswert ist, dass das Strafverfahren eingeleitet wurde, als das Stück nicht nur schon vor langem auf die Bühne gebracht worden war, sondern auch sein Bestehen eingestellt hatte. Insgesamt waren die realen Zuschauer des Stücks weitaus weniger als die Zuschauer nach der Inhaftierung von Berkowitsch und Petrijtschuk und dem Auftauchen von Videos der Inszenierung im Internet. Heute hat die Anzahl der Aufrufe der Inszenierung im Internet bereits fast eine halbe Million erreicht.
In einer Erklärung von Jewgenija Berkowitsch, die von ihren Anhängern einen Tag nach dem Urteilsspruch veröffentlicht wurde, ist von Plänen die Rede, das Urteil anzufechten: „Das Leben hat nicht aufgehört. Ein Gefängnis ist kein Grab. Die Haftstrafe ist keine aus Gummi. Wir werden weiter kämpfen entsprechend dem Prinzip „Wenn wir nicht aufholen, so wärmen wir uns zumindest auf. … Innerhalb von 14 Monaten Gefängnis haben wir sowohl ein Aufheben von Urteilen als auch eine Reduzierung von Haftstrafen gesehen. Wenn man nicht auf Berufungen hoffen kann, so auf Revisionen und höher“.
Im Verlauf des Prozesses, der am 20. Mai begann und ab dem 3. Juni hinter verschlossenen Türen verlief, hatten Berkowitsch, Petrijtschuk und ihre Verteidiger darüber gesprochen, dass die Inszenierung in künstlerischer Form die Mission einer Warnung vermittelt. Die Staatsanwaltschaft beharrte jedoch auf dem Standpunkt: Wenn das Stück über Terrorismus erzählt, teilen folglich die Autoren diese Ideologie und wollen sich gleichfalls mit ihrer Propagierung befassen. (Offensichtlich hat Staatsanwältin Denissowa nicht die Message des Stücks begriffen. – Anmerkung der Redaktion). Hinsichtlich der Härte des Urteils, das Haftstrafen für einen Mord gleichkommt, haben sich bereits russische Kulturschaffende geäußert. Die reale Haftstrafe für die Dramaturgin und Regisseurin werden in der russischen Theaterwelt als eine Warnung für alle aufgefasst, die sich noch nicht gefürchtet haben, sich auf dem Gebiet der Kunst zu brisanten sozialen Themen zu äußern.
Wenig überraschend war die Reaktion aus dem Kreml. Dmitrij Peskow, der Pressesekretär des russischen Staatsoberhauptes, lehnte es einfach ab, für Medienvertreter die Situation um das Urteil gegen die 39jährige Regisseurin Jewgenij Berkowitsch und 44jährige Dramaturgin Swetlana Petrijtschuk zu kommentieren. „Sie wissen, dass wir im Kreml niemals die Entscheidung eines Gerichts kommentieren. Wir werden dies auch jetzt nicht tun“, sagte Peskow.