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Wem haben die jungen Gopniki* der Perestroika-Zeiten Angst gemacht?


Eines der gegenwärtig am heißesten diskutierten Themen in der russischen Öffentlichkeit ist die TV-Serie des Regisseurs Shora Kryshownikow „Das Wort des Bengels…“ (eine andere Version der Übersetzung des Titels „Das Wort des Jungen“). Gedreht wurde sie auf der Grundlage des Buchs von Robert Garajew „Das Wort des Bengels. Das kriminelle Tatarstan der 1970-2010er“ und von Erinnerungen des Regisseurs aus seiner Kindheit. Die Ausstrahlung der Serie auf den Internetkanälen Wink und Start begann am 9. November und sollte eigentlich am 15. Dezember mit der achten und abschließenden Serie enden. Doch der Regisseur nahm Anfang Dezember letzte Änderungen vor und schloss die entsprechenden Dreharbeiten ab. Aber allein schon die bisher gezeigten Teile hat man begonnen, ernsthaft aufgrund einer „Poetisierung von Gewalt“, einer „Romantisierung des Banditentums“ und der Sehnsucht nach den wilden, in diesem Fall der 80er zu kritisieren.

Das Krimi-Drama „Das Wort des Bengels“ (noch ohne den Zusatz zum Titel „Blut auf dem Asphalt“) war erstmals im September beim Festival der Online-Filmtheater „Neue Saison“ gezeigt worden, wo es den Hauptpreis in der Kategorie „Am meisten erwartete Serie“ erhielt. Bereits da hatte Kryshownikow von der Bühne aus gesagt, dass das Projekt ein schweres Schicksal habe und dass für seine Realisierung und Ausstrahlung lange gekämpft worden sei. Wie er doch Recht hatte.

Die Premiere von „Das Wort des Bengels. Blut auf dem Asphalt“ (mit der Altersgrenze ab 18+) erfolgte am 9. November dieses Jahres in Online-Kinos. Die einen sind der Auffassung, dass es dem Drehteam gelungen sei, den Geist und die Atmosphäre jener nicht leichten Zeit zu vermitteln. Andere erklären, dass man die Serie, zu deren Vorläufer die TV-Saga „Brigade“ (die man seinerzeit vehement aufgrund der Romantisierung von Banditentum kritisiert hatte) geworden war, für eine Aufführung verbieten müsse, da dies dazu führen könne, dass man beginnen werde, Banditentum zu romantisieren, und sich eine Vielzahl junger Nachahmer finden würden. Wenn es viel Energie und Hormone, aber noch wenig Geist und Wissen gibt.

Es versteht sich, dass es ein Horror ist, wenn sich Spuren des Lebens von schwierigen Burschen im heutigen Leben wiederfinden. Es ist bekannt, wie die bereits erwähnte „Brigade“-Saga die Gesellschaft beeinflusste. Nach Ausstrahlung der Serie entstanden Gruppierungen „nach ihrem Vorbild und ihrer Art“. Und was wird passieren, wenn auch „Das Wort des Bengels…“ zu Auseinandersetzungen von Gangs und Schießereien führt?

Die Gestalter der Serie „Das Wort des Bengels…“ untersuchen das Phänomen der Brutalität unter Halbwüchsigen am Beispiel des Schicksals des Haupthelden Andrej, wobei sie zeigen, was den stillen häuslichen Jungen (Stubenhocker) und Musiker veranlassen konnte, sich einer Bande anzuschließen und später sich auch in einen kaltblütigen und brutalen Kämpfer zu verwandeln. Und aufgrund dieser Transformation, die sich vor den Augen der Zuschauer vollzieht, wird einem richtig unheimlich, Angst und Bange.

Die Serie wurde zu einer sehr brutalen und realistischen. Und was soll man da noch sagen: Die Wiedergabe jener Zeiten ist talentiert vorgenommen worden. In den bisher gezeigten sieben Teilen gibt es eine unglaublich genaue Detailierung (Wiedergabe) der Zeit, mit ideal aufs Neue angefertigten Gegenständen des Alltags – und überhaupt des Geistes der damaligen Epoche. Geschickt werden Musik-Hits jener Zeit – von den Gruppen „Mirage“, „Zarter Mai“, von Willi Tokarjew, Igor Talkow usw. – eingesetzt und, wo nötig, untergelegt.

Aber… Es tut einem eher um die ältere Generation leid – die einsame Oma, die ohne den ermordeten, noch zur Schule gehenden Enkel geblieben ist, die an den Rand von Wahnsinn getriebene Mutter Andrejs, die seine schreckliche Transformation beobachtete, den Vater des anderen Haupthelden (Marat) mit seinem tragischen Monolog (eine ausgezeichnet von Sergej Burunow verkörperte Rolle) …

Es ist zu spüren, dass selbst der Regisseur seine Helden nicht sehr liebt. Dies ist aber ein stetiger Wesenszug Kryshownikows, sein Recht. Dass er stets sehr gut dreht, ist ein Axiom.

Was gibt es im „Wort des Bengels…“ noch an Interessantem? In die Serie ist klug der Dokumentarfilm von 1986 über Mitglieder der Kasaner Gruppierungen „Und bei Ihnen im Hof“ integriert worden, in dessen Vorspann Marina Rasbeshkina als Szenaristin ausgewiesen wurde. In der Serie sind teilweise sogar „Once Upon a Time in America“ („Es war einmal in Amerika“), „Der Pate“, „Fight Club“ und andere zu erahnen.

Anfang Dezember war Shora Kryshownikow in der Sendung „Zentrales Fernsehen“ des TV-Kanals NTW (der im kommenden Jahr die Ausstrahlung von „Das Wort des Bengels…“ plant) und beantwortete die Fragen des Moderators Wadim Takmenow. Der Regisseur ist der Auffassung, dass seine Serie eine Wiederspiegelung jener wirren Zeit sei. „Damals siechte die Ideologie dahin. Die Menschen wussten nicht, was sie wollen, wohin sie streben sollen. Sie hatten nur gehofft, dass es besser wird. Und das war es. Eben darüber ist unsere Geschichte“. Und er versicherte, dass jene, die sich die Geschichte bis zum Schluss anschauen werden, das Schicksal der Helden nicht wiederholen wollen. Ein Verbrechen könne nicht ungestraft bleiben.

Wadim Takmenow äußerte seinen Standpunkt bezüglich der Vorwürfe aufgrund einer Romantisierung von Banditentum in der Serie. Er konstatierte, dass man vielen Filmprojekten solch einen Vorwurf machen könne. Und in solch einem Fall mache es keinen Sinn, darüber zu erzählen, was sich in unserem Land ereignete.

Das heißt: Die Gestalter der Geschichte wollten anschaulich zeigen, wozu Gewalt führen kann. Dies ist aber mit einem großen Format (Spielfilm) möglich. Man schaute sich das anderthalb Stunden an, verspürte eine Katharsis und hat begriffen, wozu Gewalt führen kann. Wenn aber jeweils eine Serie in der Woche ausgestrahlt wird und man es noch bis zu einer Katharsis schaffen (die Serie bis zum Schluss anschauen) muss?

Sieben der acht geplanten Serien sind bereits gezeigt worden. Was für Botschaften kommen aus den Regionen? Im Verwaltungskreis Sarmanowo von Tatarstan haben Halbwüchsige nach dem Anschauen von „Das Wort des Bengels…“ Telegram-Kanäle gestartet, die sie zu Ehren von zwei in der Republik bekannten kriminellen Gruppierungen benannten – „Chadi Taktasch“ und „Shilka“. Symbolisch teilten sie auf Landkarten das Territorium eines Parkes untereinander auf. Sie posteten aber auch Videos, wo sie zur Musik aus der Serie „Das Wort des Bengels…“ herumrempeln und sich mit Schneebällen bewerfen.

In Irkutsk hat man an einer Haltestelle einen Schüler ermordet. Nach der Frage „Aus welchem Viertel bist du, Hinterwäldler?“ versetzte man dem Jungen mit einem Messer einen tödlichen Hieb in den Hals. Die Tragödie brachte man mit der Popularität der Serie in einen Zusammenhang. Freilich erklärte die Kinder-Ombudsfrau des Verwaltungsgebietes Irkutsk, Swetlana Afanasjewa, dass es keine Bestätigung für einen Zusammenhang zwischen dem Verbrechen und der Serie gebe. „Die Informationen werden überprüft. Bisher gibt es dafür keine Bestätigung“.

Mit ihren „Heldentaten“ rühmten sich auch dagestanische Mädchen in den sozialen Netzwerken mit einem Verweis auf die Serie „Das Wort des Bengels…“. Das Innenministerium der Republik dementierte jedoch die Informationen darüber, dass ein publik gewordenes Verprügeln eines Mädchens in der Region mit dem Ansehen dieser Serie zusammenhänge.

Ergibt sich da, dass die Serie „Das Wort des Bengels. Blut auf dem Asphalt“ ein zweischneidiges Schwert ist?

 

  • *Gopniki – in Russland eine Bezeichnung für kriminelle oder vagabundierende Jugendliche, die oft keine Ausbildung vorzuweisen haben und einem ökonomisch schwachen sozialen Milieu angehören.