Das Moskauer Bolschoi-Theater hat eine Weltpremiere gezeigt. Im Auftrag des Theaters hat das Ballett „Orlando“, inspiriert von dem gleichnamigen Roman von Virginia Woolf, der Leiter des Züricher Balletts, der den Moskauern bekannte Choreograph Christian Spuck inszeniert.
Zwei Akte. Sieben Szenen mit einem Prolog. Sieben handelnde Personen. Die Musik von fünf Komponisten – von Michail Glinka bis Lera Auerbach. Plus das Gebet „Unter Deiner Gnade“ in einer Darbietung des Sweschnikow- und des Miloslawow-Chores (das aus irgendeinem Grunde dem Liebesduett von Orlando und der russischen Gräfin Sasha vorausgeht) und das „Lied aus dem heiligen Buch“ in einer Interpretation des Gurdshijew-Volksinstrumente-Ensembles.
Christian Spuck ist voll von Widersprüchen. Er beharrt darauf, dass der Roman einer der Ideologen des Feminismus bei weitem nicht über Gender-Probleme erzählt. Derweil lautet bereits der erste Satz des Librettos, das von dem langjährigen Mitstreiter des Choreographen Claus Spahn geschrieben wurde: „Der Roman von Virginia Woolf „Orlando“ ist die Geschichte eines Mannes, der sich in eine Frau verwandelte…“ Außerdem nötigt nach der Autorin des Romans der Autor dessen Tanzversion seine Helden, die Schale der Entbehrungen und Erniedrigungen, die eine Frau in den Realitäten Englands des 18. Jahrhunderts begleiteten, bis zum bitteren Ende auszutrinken.
In allen der Premiere vorausgegangenen Interviews von Christian Spuck lesen wir, dass das Hauptthema des Balletts die Poesie, die Geheimnisse des Schaffens seien. Aber auf den Gedanken darüber, dass der Held zumindest irgendeine Beziehung zum Schreiben hat, können den Zuschauer wohl nur die mitunter auf der Bühne auftauchenden Bücher und die von Zeit zu Zeit in der Hand von Orlando erscheinende Gänsefeder bringen.
Spuck behauptet, dass „er sich bemüht, unterschiedliche Vokabulare, unterschiedliche Sprachen in der Choreografie zu finden“, wobei sich die Plastik und die Inszenierung nicht nur wenig in den Grenzen dieses Spektakels ändern, sondern mit aller Offensichtlichkeit auch auf andere seiner Inszenierungen verweisen, zum Beispiel zum „Requiem“ oder zu „Anna Karenina“, die der Choreograph im Jahr 2016 von seiner Bühne in Zürich auf die Bretter des Moskauer Stanislawskij-Nemirowitsch-Dantschenko-Musiktheaters gebracht hatte.
Der Choreograph verwendet seinen Worten zufolge „das Ballett, um eine Geschichte zu erzählen“, und der Tanz ist für ihn die „beste Form, Musik zu visualisieren“. Eine Geschichte ist jedoch vor allem das Sujet, aber dies ist ohne die Hilfe des Librettos und der erklingenden Fragmente des Romans schwerlich auszumachen. Was aber die Visualisierung der Musik angeht, so verleiht sie selbst in einer bizarren Verknüpfung von Unverbindbarem eher der monotonen Handlung zumindest irgendwelche Farben und Emotionalität.
Worin aber Christian Spuck ganz bestimmt konsequent ist, so ist dies im Festhalten an einer „düsteren Romantik“, darin, dass „Orlando“ wie auch die meisten seiner Inszenierungen „aus finsteren Welten stammt“. Die Handlung, die 350 Jahre erfasst, vom 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, entfaltet sich in der düsteren Atmosphäre eines „schwarzen Kabinetts“. Der Bühnenbildner Rufus Didwiszus, der dieses schuf, ist geizig in Sachen Accessoires. Ein Leuchter beim Ball von Elisabeth I., ein Stadtmodell aus Karton in der Szene des Aufstands der Türken in Konstantinopel, eine Schar von Vögeln mit weitgespreizten Flügeln in den Händen des Corps de Ballet, die wahrscheinlich dazu bestimmt ist, die Freiheit des Geistes zu symbolisieren. Und natürlich auch ein kleines Spielzeugflugzeug in den Händen des kleinen Sohns von Orlando – eines Zeitgenossen der Ära der Flugmobile.
Zu einer größeren Überraschung werden die Kleider mit Seitenreifen im Pannier-Look, die schneeweißen Kamisolen und gepuderten Perücken, die sich entsprechend dem Willen der Kostümbildnerin Emma Ryott in das gesamte düstere Kolorit mit Beginn des galanten Jahrhunderts hineindrängten.
Nicht mit den ungewöhnlichsten Aufgaben wurden dieses Mal die Ballettkünstler konfrontiert. Semjon Tschudin fielen beispielsweise zwei Rollen zu, die der Königin Elisabeth und des Orlando-Geliebten (Marmaduke Bonthrop) Shelmerdine. Während in der musikalischen Auswahl die Nachbarschaft von Edward Elgar, Philip Glass und Eleha Kats-Chernin mit christlich-orthodoxen Gesängen oder „Der Lerche“ von Glinka selbstverständlich erlaubte, den gesuchten „Kontrast“ zu erreichen, ist derweil in der Gestaltung der Charaktere und emotionalen Zustände nicht alles gelungen. Aber nicht nur bei Denis Sawin. Sein Nicholas Greene veranlasste, daran zu denken, was für ein umwerfender Lord Henry er hätte sein können, wenn ihm irgendwer solch eine Möglichkeit gewährt und wie durch ein Wunder ein Ballett-Äquivalent zu dem unnachahmlichen „Dorian Grey“ gefunden hätte.
Die Rolle des Orlandos tanzt entsprechend der Absicht von Christian Spuck, unabhängig davon, ob er in der jeweiligen Szene ein Mann oder eine Frau ist, eine Ballerina. In der ersten Premierenzusammensetzung – Olga Smirnowa. Sie ist eine ungewöhnlich anmutige (aber überhaupt nicht in der Art von zerbrechlichem weißen Porzellan), mit einer mikromillimetergenauen Zeichnung der schönen Linien des Körpers, der es vermag, dem Zuschauer den inneren Nerv spüren zu lassen, aber auf keinen Fall eine Neurasthenie. Die der Künstlerin vom Wesen her eigene gewisse Zurückhaltung außerhalb eines primitiven Erotismus erwies sich überzeugender als jegliche Deklarationen und Wendungen bei der Bestätigung des einfachen, aber in keiner Epoche generell offensichtlichen und heute so schmerzhaft aktuellen Gedankens: Wertvoll ist der einzelne Mensch. Die Persönlichkeit. Unabhängig vom Geschlecht und was auch immer sonst.