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Wir reinigen die Heimat von AIDS!“


Am Donnerstag, dem 19. Mai sind auf dem russischen Internetportal „Kinopoisk“ (deutsch: „Filmsuche“) die ersten zwei Teile der TV-Serie „Der Patient Null“ ausgestrahlt worden. Der erste war auch Anfang der Woche im Format einer geschlossenen Premiere im Moskauer Filmtheater „Chudoschestwennyj“ gezeigt worden.

In der letzten Zeit werden viele qualitativ hochwertige russische Serien aufgeführt. Sie machen direkt dutzende aus (während die qualitativ minderwertigen Serien Einzelfälle sind). Mitunter ist es gar schwierig, irgendeine einzige für ein Rezensieren auszuwählen. Beispielsweise hat in diese Woche die Ausstrahlung von vier würdigen Projekten begonnen. Aber natürlich nimmt das Drama „Der Patient Null“ eine Sonderstellung ein, aufgrund seines Themas. Und aufgrund des Hauptgedankens – darüber, dass ein Verschweigen der Wahrheit mit einer Katastrophe endet.

Bekanntlich war 1987 in der Sowjetunion die Politik der Glasnost und Perestroika verkündet worden. Daher hatte sich augenscheinlich 1988 in der Nachrichtensendung „Wremja“ die Nachricht über einen HIV-Ausbruch im Kinderkrankenhaus von Elista (und von 75 infizierten Kindern) als eine mögliche erwiesen, wonach im Land eine Panik einsetzte. Das Volk verlangte, die Erkrankten, die Träger der schrecklichen Krankheit, zu isolieren und beinahe zu vernichten. An dem Krankenhaus von Elista (der Hauptstadt von Kalmykien, heute eine russische Teilrepublik – Anmerkung der Redaktion) organisierten Einheimische Mahnwachen mit den Plakaten „Wir reinigen die Heimat von AIDS!“ und „Hier ist AIDS zu Hause!“.

Glasnost hin, Glasnost her, aber die Offiziellen erwiesen sich nicht bloß nicht auf die Epidemie vorbereitet, die sich in Kinderkrankenhäuser im Landessüden ausbreitete (Wolgograd, Rostow am Don, Stawropol), sondern verleugnete die eigentliche Möglichkeit ihres Auftretens in der UdSSR, wobei sie die Auffassung vertraten, dass AIDS eine Krankheit des Westens sei und von ihr ausschließlich Drogensüchtige, Homosexuelle und Prostituierte erfasst werden würden. Mehr noch, AIDS wurde als eine biologische Waffe der USA aufgefasst, die entwickelt worden sei, um die afrikanischen Länder zu verunglimpfen, die für uns freundschaftliche gewesen waren.

Seit dieser Zeit sind mehr als 30 Jahre vergangen. In Russland gibt es bereits über eine Million HIV-Positive. Ein Medikament zur Ausheilung von AIDS ist nach wie vor nicht gefunden worden. Es ist jedoch scheinbar die Zeit für eine künstlerische Aufarbeitung des 1988 in Elista Vorgefallenen gekommen.

In der Serie gibt es zwei Hauptprotagonisten – einen jungen Arzt des Kinderkrankenhauses, der als erster Alarm geschlagen hatte (Askar Iljassow), und einen jungen Epidemiologen aus der sowjetischen Hauptstadt (Nikita Jefremow), der darauf reagierte. Jefremow‘s Held ist Sohn eines hochrangigen Beamten aus dem Gesundheitsministerium, der sich aufgrund des Vorhandenseins solch eines Vaters stark Sorgen macht. Wobei zum Prototyp der Infektionsarzt Wadim Pokrowskij geworden ist, der den HIV-Ausbruch in Kalmykien untersuchte und Sohn des Chef-Epidemiologen der UdSSR Valentin Pokrowskij war.

Im Grunde genommen ist im ersten Teil nichts erfunden worden. Erzählt wird die reale Geschichte: Die erfolglose Operation eines Babys im Kinderkrankenhaus von Elista, das sich als ein infiziertes herausstellte (es stirbt), die Suche und das Ermitteln desjenigen, mit dem als ersten die Epidemie im Land begann, und dessen Auffinden… Und die Auflösung.

Der erste sowjetische Bürger, der an AIDS erkrankte, war ein Militärdolmetscher, der freilich nicht in Thailand gedient hatte, wie man aus irgendeinem Grunde in der Serie lügt, sondern in Tansania. Sogar die komische kurze Szene auf dem Exerzierplatz, als der Kommandeur den „Perversen und Päderasten“ drohend befiehlt, drei Schritte nach vorn zu tun, hatte sich laut Aussagen von Pokrowskij tatsächlich ereignet. Es mussten alle Grundwehrdienstleistenden „gefilzt“ werden, da der „Patient Null“ nach der Rückkehr aus Afrika mit sage und schreibe 25 Soldaten im Grundwehrdienst Kontakt gehabt hatte (die nach der Demobilisierung im ganzen Land unterwegs gewesen waren). Und sie alle mussten gefunden werden.

Der erste Teil wirkte etwas „schlampig“, irgendwie ohne einen inneren Rhythmus. Als Drehbuchautor des „Patienten Null“ wird Oleg Malowitschko ausgewiesen. Von einem Mann, der die TV-Serie „Der Kristallene“ (psychologischer 9-teiliger Krimi, der im vergangenen Jahr auf dem russischen Streaming-Service KION erstmals ausgestrahlt wurde – Anmerkung der Redaktion) geschrieben hat, erwartest du mehr. Ohne einen inneren Rhythmus, aber mit einer sehr überzeugenden Arbeit von Seidullah Moldachanow (als Chefarzt des Krankenhauses) und des bereits genannten Askar Iljassow.

Mir gelang es nicht, den zweiten Teil anzuschauen. Aber im dritten, in dem es viel Jewgenij Stytschkin gibt, der einen furchtlosen Reporter aus der Zeitung „Sowjetische Jugend“ spielt (und übrigens gleichzeitig der Regisseur der Serie zusammen mit dem Kameramann Sergej Trofimow ist), aber auch von einem verantwortlichen KGB-Offizier, dargestellt durch Pawel Maikow, kommen sowohl Rhythmus als auch Dynamik auf. Den Helden von Nikita Jefremow bestellt man zu einer Sitzung der Regierung mit Kabinettschef Gorbatschow (Gennadij Smirnow) ein. Ihm wird angetragen, „diese Informationen geheim zu halten. Stellen Sie sich einmal vor, was für einen Rummel die westliche Presse beginnen wird?!“.

Trotz aller Glasnost bekommt aber der Chefredakteur des Blattes „Sowjetische Jugend“ (Wladimir Steklow) Angst: „Ohne die Billigung des Stadtkomitees wird unsere Zeitung dies nicht drucken“. Und als man den Beitrag über das in Elista Vorgefallene doch gedruckt hatte, entfernt man in der ganzen Stadt die Zeitung von den Leseständen.

…Toll, denkst du da. Aber hat sich denn Vieles im Vaterland in den vergangenen 34 Jahren verändert? …

Und der „Patient Null“ unmittelbar in Elista war ein Arbeiter, der seinerzeit in der Flotte gedient hatte. Sein Schiff war in Kongo vor Anker gegangen, nun und… Im dritten Teil läuft die Handlung darauf hinaus, dass der Vater des infizierten Babys aus dem ersten Teil eben jener Mann vom Schiff ist. Spritzen waren damals aus Glas. Unter Verletzung aller Anweisungen (und sich von dem Prinzip „die Wirtschaft muss eine sparsame sein“ leiten lassend) hatten die Krankenschwestern bei den Manipulationen zur Abnahme von Blut vor den Injektionen nur die Nadeln ausgetauscht. Und eben so kam es zur massenhaften Infizierung der Kinder…