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Wird in Russland die außerparlamentarische Opposition erhalten bleiben?


Gegen Alexej Nawalny, dem Gründer der Stiftung für Korruptionsbekämpfung (SKB, die in der Russischen Föderation als ein „ausländischer Agent“ eingestuft und extremistische Organisation verboten wurde) ist Anklage wegen der Bildung einer Organisation, die die Persönlichkeit und Rechte von Bürgern antastet, erhoben worden. Gegen seine Mitstreiter Iwan Schdanow und Leonid Wolkow ist noch ein Strafverfahren eingeleitet worden. Ihnen wird die Organisierung einer Sammlung von Mitteln vorgeworfen, die „vorsätzlich für die Finanzierung einer extremistischen Organisation bestimmt sind“. Zuvor hatte Ljubow Sobol Russland verlassen, die zu einer Einschränkung der Freiheit für einen Zeitraum von anderthalb Jahren „aufgrund des Anstiftens zu einer Verletzung sanitär-epidemiologischer Regeln“ verurteilt worden war. Das Urteil ist bisher nicht in Kraft getreten. Und wahrscheinlich daher hatte dies keiner verhindert. Unbekannt ist, ob Sobol nach Russland zurückkehren wird, um die Strafe zu verbüßen, wie dies de facto Nawalny getan hatte. Die Variante, bei der sie auch eine Politemigrantin bleibt, ist recht wahrscheinlich.

Die Herrschenden setzen die Operation zum endgültigen Verdrängen der kompromisslos eingestellten Opposition vom politischen Feld fort oder schließen sie möglicherweise gar ab. Früher bedeutete der außerparlamentarische Status bzw. das Nicht-zum-System-gehören, dass Parteien und Politiker einfach nicht in die Staatsduma (das russische Unterhaus – Anmerkung der Redaktion) gelangen, keine staatliche Finanzierung erhalten, vage Perspektiven haben und aufgrund dessen ständig ihre Strukturen umorganisieren sowie die Taktik ändern. Heute ist das Nicht-zum-System-gehören ein Balancieren an der Grenze zum Status eines „ausländischen Agenten“, einer „unerwünschten Organisation“ und danach auch eines „Extremisten“. Den Politikern, die in diesen Kreisen waren, offeriert man vom Wesen her zwei Hauptmöglichkeiten – entweder Reue bekunden und eine Integration in das System nach einer gewissen Zeit oder Gefängnis, Emigration oder Illegalität, aus der man die Menschen herauszerren und durch Gerichte schleifen wird. Die Auswahl ist keine reiche.

Was wird weiter passieren? Was für ein Leben kann die russische Politik nach solch einer Zerschlagung der Vertreter der außerparlamentarischen Opposition erwarten? Der Mechanismus für ein Ausschließen und Bestrafen ist bereits in Gang gesetzt worden. Stoppen kann ihn nur ein eindeutig demonstrierter politischer Wille. Wenn es aber keine solchen Anstrengungen gibt, wird die Maschine des Bestrafens weiterarbeiten. Es ist unmöglich vorauszusagen, wann sie anhalten wird.

Das Nicht-zum-System-gehören kann aus dem russischen politischen Diskurs verschwinden. Zurückbleiben nur tatsächliche Untergrundkämpfer, die als Extremisten eingestuft worden sind. Alle legalen Strukturen aber können frei konkurrieren. Wir sehen aber, was mit den absolut legitimen Parteien passiert, aus deren Wahllisten mehr oder weniger perspektivreiche Kandidaten gestrichen werden. Wenn der Mechanismus des Ausschließens nicht gestoppt wird, so verschwindet auch das Nicht-zum-System-gehören nirgendwohin. Dieser politische Limbus wird einfach durch neue Figuren gefüllt, ehemalige legale Kommunisten, Sozialisten, Liberale, Nationalpatrioten. Sie erstarren entweder in dieser Stellung oder werden selbst zu „unerwünschten“ und gar zu „Extremisten“.

Die taktischen Erwägungen der Offiziellen sind klar. Die strategischen lösen Besorgnis aus. Mit dem unweigerlichen Verschwinden des Anführers kommt es früher oder später zu einem Wechsel der Eliten. Dieser Prozess kann der hauptsächliche sein, er kann aber auch ein revolutionärer sein. Was äußerst unerwünscht ist. Wenn es aber im System keinen Mechanismus für eine Wahrnehmung von Kritik gibt, so akkumulieren sich in ihm Widersprüche und Defekte, die radikale Handlungen seitens der neu an die Macht gekommenen verlangen. Radikalität ist eine direkte Schwester des Revolutionären.

Keinerlei Herrschenden gefällt die Opposition. Aber in den entwickelten Demokratien wird ein ständiges Zusammenwirken dieser beiden Kräfte gewährt, als eine Maßnahme zur Prophylaxe einer Revolution und eines institutionellen Kollapses. Die russische herrschende Elite redet endlos von ihrer Verantwortung für das Land. Die Bewahrung einer unabhängigen politischen Alternative ist gerade aber eine Erscheinung solch einer Verantwortung.