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Wird man die Passage durch die Meerenge von Kertsch gegen eine Deblockierung des Nördlichen Krim-Kanals eintauschen


Die großangelegten Manöver der russischen Armee, die auf der Krim und im Schwarzen Meer stattfinden, haben nicht nur die Führungskräfte der Ukraine, sondern auch die Vertreter der USA und der NATO gehörig in Aufregung versetzt. Jedoch haben die verantwortlichen militärischen Führungskräfte im Pentagon und in Kiew bisher keine Anzeichen für einen baldigen realen Krieg ausgemacht. Doch die angekündigte langfristige „Blockade“ der Meerenge von Kertsch durch Moskau und die größte Konzentration von Streitkräften der Russischen Föderation an der Grenze Ukraine seit der gesamten postsowjetischen Zeit verknüpft eine Reihe von Experten in erster Linie mit den Versuchen, Kiew zu nötigen, Wasser durch den Nördlichen Krim-Kanal auf die Krim fließen zu lassen.

Bei jüngsten Anhörungen im Streitkräfte-Ausschuss des Repräsentantenhauses des US-Kongresses teilte Tod Daniel Wolters, Befehlshaber des United States European Commands (deutsch: Europäischen Kommandos der Vereinigten Staaten), mit, dass das Pentagon die Möglichkeit eines „Einmarschs“ der Russischen Föderation in die Ukraine in den nächsten Wochen auf dem Level „von gering bis mittelmäßig“ einschätze. Praktisch hat genau solche Einschätzungen im ukrainischen Fernsehen auch der Befehlshaber der Operation der vereinigten Streitkräfte im Donbass, Generalleutnant Sergej Najew, abgegeben. Mit Besorgnis sagte er, dass in der nächsten Zeit die Anzahl der russischen Militärs an der Grenze des Landes „bis auf 110.000 erhöht wird, was rund 57 taktische Bataillonsgruppen sind“. Er versicherte aber, dass für die Ukraine solch eine Anzahl von Truppen des Gegners „keine kritische Gefahr ist“. Denn: „Im Verlauf von Manövern und Trainings haben wir ja die Fragen mit einer erheblich größeren Stärke des Truppenbestands des wahrscheinlichen Gegners durchgespielt“, betonte er. Dabei machte der ukrainische General keine Anzeichen für eine Offensive seitens Russlands aus. Entsprechend den Gesetzen der Militärwissenschaft „schafft der Gegner für eine Offensive vor allem schlagkräftige Einsatzgruppierungen“. Jetzt aber würden sich nach seiner Meinung „solche Einheiten in den Basislagern und auf Truppenübungsplätzen befinden“ und lediglich eine „Demonstration der Stärke“ vornehmen, erklärte Najew.

Vor diesem Hintergrund wird nicht nur für die Ukraine, sondern auch für deren internationalen Partnern die Entscheidung Russlands „über eine Schließung der Passage für ausländische Kriegsschiffe und andere Schiffe unter der Flagge anderer Staaten in drei Gebieten des Schwarzen Meeres“ ab 21.00 Uhr des 24. Aprils bis einschließlich 21.00 Uhr des 31. Oktobers zu einer signifikanten. Darüber informierte das Bulletin der Verwaltung für Navigation und Ozeanografie des russischen Verteidigungsministeriums. Wie die Medien berichten, gelten die Verbote für eine Passage der Meerenge von Kertsch, des Asowschen Meere und einige Teile des Schwarzen Meeres. Anders gesagt: Durch die Meerenge von Kertsch können in dieser Zeit nur ukrainische Handelsschiffe fahren. Im Zusammenhang damit haben das Außenministerium der Ukraine und etwas später Vertreter der USA und der NATO ihren Protest gegenüber Russland bekundet. Dabei erklärte der Pentagon-Pressesprecher John Kirby: „Wir rufen Russland auf, die Drohungen gegen Schiffe in der Region einzustellen und den Aufbau eines Militärpotenzials an den Grenzen der Ukraine umzukehren“.

Das chinesische Internetportal Sina bewertete die Handlungen Russlands hier auf eine etwas andere Art und Weise. „Die Kriegsschiffe der Ukraine sind in eine Falle geraten. Und die für Kiew einzige möglich Form, Widerstand zu leisten, ist, Protest zum Ausdruck zu bringen, dem Moskau gegenüber taub geblieben ist. Die Ukraine hat eine harte Ohrfeige seitens Russlands erhalten und das Gesicht verloren“, heißt es in der entsprechenden Sina-Publikation.

Die Wertungen russischer Experten zu diesem Problem sind weniger emotional, aber argumentierter. „Die Seehäfen Mariupol und Berdjansk am Asowschen Meer sind nach Odessa die vom Frachtgut-Umschlag her die größten in der Ukraine“, erklärte der „NG“ der Militärexperte, Oberst Schamil Garejew. „Jetzt aber, wenn die Passage für die Schiffe durch die Meerenge von Kertsch erheblich eingeschränkt wird, werden sie keine Frachtgüter erhalten und können nicht im bisherigen Regime arbeiten. Dies ist ein Beispiel dafür, wie der sogenannte Hybrid-Krieg geführt wird“.

„Das Asowsche Meer ist ein Binnengewässer, auf das sich die Jurisdiktion Moskaus und Kiews erstreckt. Aber die Passage dorthin ist nur durch die Territorialgewässer Russlands möglich. Und Moskau ist berechtigt zu entscheiden, wie es dort agieren wird. Zumal sich im Donbass der militärische Konflikt zugespitzt hat. Und natürlich ist eine ausländische Präsenz in diesem Bereich nicht wünschenswert.“ So kommentierte die Entscheidung Moskaus, die Passage ausländischer Schiffe durch die Meerenge von Kertsch einzuschränken, der Militärexperte Wladimir Popow.

„Unter den Bedingungen der neuen Trockenheit auf der Krim und der Zuspitzung des Problems der Wasserversorgung auf der Halbinsel hat Russland scheinbar beschlossen, aktive Handlungen zu beginnen, die darauf abzielen, erneut Wasser des Nördlichen Krim-Kanals, das vom Dnepr im Raum von Nowaja Kachowka kommt, auf die Halbinsel fließen zu lassen“, erklärte gegenüber der „NG“ der Militärexperte, Oberst Nikolaj Schulgin. „In Kiew und in der NATO befürchtet man, dass die Truppenkonzentration zu Kampfhandlungen führt. Dies ist jedoch vorerst einfach eine „Demonstration der Stärke“. Und unter den Bedingungen der „Schließung“ der Meerenge von Kertsch sind dies legitime Schritte, die darauf ausgerichtet sind, dass die Ukraine versteht, dass sie nicht berechtigt ist, der 3-Millionen-Bevölkerung der Krim das Wasser wegzunehmen. Der Nördliche Krim-Kanal muss in Betrieb genommen werden. Dann wird auch die soziale Gerechtigkeit für die Bewohner der Halbinsel wiederhergestellt, die Kiew übrigens für seine Bürger hält. Dann wird auch im Asowschen Meer die normale Schifffahrt wieder in Gang kommen.“

Eine analoge Meinung vertritt auch der Militärexperte, Generalleutnant Jurij Netkatschjow, der im Frühjahr des Jahres 2014 an den Ereignissen auf der Halbinsel teilgenommen hat, die mit der Wiedervereinigung der Krim und Russland zusammenhingen. „Wenn bei der ukrainischen Führung nicht das Begreifen der Notwendigkeit heranreift, den Nördlichen Krim-Kanal zu öffnen, so werden erst dann, in wenigen Monaten (so Ende des Sommers oder Anfang Herbst) möglicherweise militärische Argumente zur Wirkung kommen“, vermutete Jurij Netkatschjow gegenüber der „NG“.