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Wladimir Sorokin und Gusel Jachina – andere Schriftsteller haben wir für Sie nicht


Die moderne Prosa ist technisch. Sie ist wohl gar zu technisch. Was beispielsweise der letzte Roman von Gusel Jachina „Güterzug nach Samarkand“ belegt. Das Erzählen, das von der Person der Schriftstellerin aus erfolgt, wird durch einen Bericht eines kleinen Jungen unterbrochen, einem Opfer der Hungersnot, und wird dann wieder aufgenommen. Die Handlung ist geschickt aufgebaut worden: Mit großen Schwierigkeiten und Abenteuern bahnt sich ein Güterzug mit hungernden Kindern des Wolgagebietes 1923 einen Weg nach Turkestan. Interessant sind die Exkurse, die mit dem kindlichen Kosmos verbunden sind: Was für Spitzennamen die Kinder sich und den Erwachsenen geben, wie sie mit Reimen spielen, was für Flüsterparolen und Sprüche sie sich ausdenken, wie sie „Hochzeit machen“…

Aber die Technik, dies ist noch nicht alles.

Beim Lesen des letzten Romans von Jachina denkst du unwillkürlich daran, dass sich die Vergangenheit an uns klammert, nicht loslassen will. Sie kommt in Gestalt sowjetischer Lieder über das Wichtigste daher und entstellt alles. Ja, und da hat unsere Schriftstellerin, sich buchstäblich dem vorherrschenden Diskurs unterordnend, ihre Helden in die Kluft von Arkadij Gaidar gesteckt – (sie sind) tapfere, ehrliche, standhafte. Und sie dienen der richtigen Sache. Wie kann es denn auch anders sein: Man rettet Kinder?

Eine Kommissarin und der Chef des Güterzugs Dejew sind die Haupthelden. Und die Autorin hebt sie auf einen Sockel. Natürlich haben sie auch kleine Sünden auf dem Kerbholz: Die Kommissarin denunzierte in der Sonderkommission die Nonnen, die sie großgezogen hatten. Dejew brachte protestierende Frauen und hungrige Kinder um. Aber dies alles ist in der Vergangenheit. Nunmehr verbringen doch diese stahlharten Menschen eine edle Sache. Und dem Zuschauer, der zum Zeugen des schweren Weges geworden ist, bleiben nur zwei Optionen – Mitleid haben und sich über die Erfolge freuen.

Natürlich ist dieser Roman nicht zu Sowjetzeiten geschrieben worden. Allein schon, weil zu Gehilfen des Kinderzuges ein Kosakenataman und ein Bey werden. Aber dies sind schon Details.

Die herrschende Stimme von (Konstantin) Stanislawskij – „Ich glaube nicht!“ – ertönt auf jeder Seite. Die Autorin hört sie nicht und formt eine Szene nach der anderen. Früher, zu Zeiten (Nikita) Chrustschows und (Leonid) Breschnews, hatten die Schriftsteller um eine Erweiterung der Zone der Wahrheit gekämpft. Jachina verringert sie ruhig, indem sie sich ausschließlich auf sowjetische Quellen stützt. Und im Lesesaal wird es stickig. Mitunter unerträglich stickig. Ich vergifte mich, Gift! (Zitat aus dem Roman „Der Meister und Margarita“ von Michail Bulgakow – Anmerkung der Redaktion).

Ach, wenn der sozialistische Realismus loslassen würde! Ach, wenn die Erzählweise Kurven schlagen, ein wundersames surreales Bild schaffen würde, das – sagen wir einmal – bei Andrej Platonow entsteht! Da hätte man der Autorin folgen können. So aber ist es (Alexandra) Marinina (eine russische Krimi-Autorin – Anmerkung der Redaktion) auf ihre Art.

Nun ja, Marinina liest man. Aber man diskutiert sie nicht: Alles ist auch so recht klar.

Also denn, allein die Technik ist wenig. Und die Wahrheit, die unter einem bestimmten Blickwinkel geboten wird – ebenfalls. Und der Stil ist augenscheinlich auch unzureichend.

Wir beginnen Fäden zu sehen, an denen die Figuren baumeln, und zu bemerken, wie man an ihnen herumzerrt. Und für uns ist es bereits langweilig, im Theater zu sitzen, einfache Verbraucher zu bleiben. Natürlich, manchmal kann man auch Marinina lesen, um sich zu entspannen. Aber der Roman erhebt doch Anspruch auf etwas Größeres, die Autorin hat den Anspruch auf irgendeine „große Literatur“.

Die Literatur, die Literatur ist, steht real vor der Aufgabe, aus sich selbst herauszukommen, um in einer anderen Qualität wieder zurückzukehren. Sie muss vollkommen herauskommen. Auf ehrliche Art und Weise herauskommen. Dies ist Gegenstand ihrer Unruhe. Und der Schriftsteller ist jedes Mal verpflichtet, irgendeine Perle zu finden, eine gedankliche Ellipse. Andernfalls ist es uninteressant.

Auf intuitiver Ebene haben dies viele Autoren verstanden und verstehen es. Als, sagen wir einmal, Sergej Senkjewitsch den Dreizeiler „Nachdem ich so viele Meldungen über Kampfhandlungen gelesen hatte, / wachte ich nachts vor Schrecken schweißgebadet auf: / Ich hatte geträumt, dass ich die Brotkarte verloren hatte“ schrieb, hatte er die Poesie im Interesse der Vermittlung eines Affekts aufgegeben. Und indem er ihn vermittelte, legte er eine ganze poetische Schicht frei, die im Weiteren durch die Lianosowo-Schule (Gruppe von Postavantgardisten bzw. Nonkonformisten, die in der einstigen Sowjetunion ab Ende der 1950er bis Mitte der 1970er Jahre wirkte – Anmerkung der Redaktion) erschlossen wurde.

Und eben jene Jachina ist, indem sie den Roman „Suleika öffnet ihre Augen“ (erstmals 2015 veröffentlicht, im Berliner Aufbau Verlag 2017 erschienen – Anmerkung der Redaktion) über die Zerschlagung des Kulakentums geschrieben hatte, auch in den Non-Fiction-Bereich (nichtliterarischen Bereich) gegangen. Mag sie Vieles nicht gewusst haben, doch, indem sie sich auf die tatarische Welt, auf Zeugenaussagen und Überlieferungen stützte, hat sie ein lebhaftes Bild geschaffen. Im (Roman) „Güterzug nach Samarkand“ gibt es keinen derartigen Ausstieg. Im Hintergrund ist die Große Sowjetliteratur auszumachen.

Das Herausgehen über die Grenzen der Literatur, ihr Überschreiten ist ein ernsthaftes schöpferisches Problem. Mechanisch ist es nicht zu lösen. Man muss jedes Mal irgendeinen Weg finden, der erlaubt, eine Bewegung dorthin und zurück zu vollziehen. Am besten gelingt dies heute Wladimir Sorokin, über den der angesagte Kritiker der 1990er Michail Nowikow einmal gesagt hatte (wobei er leicht die legendäre Antwort Stalins für (Alexander) Fadejew abgeändert hatte): „Andere Schriftsteller haben wir nicht“.

Der neue Sorokin-Roman „Doktor Garin“ (2021) erinnert an die Erzählung „Der Tag des Opritschniks“ (2006, im Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch 2007 erschienen – Anmerkung der Redaktion). Und nicht nur, weil der eine und der andere eine Antiutopie sind. Das Wesentlichste in ihnen ist eben jenes: die Form des Herausspringens aus der Ästhetik und die Rückkehr in sie.

Sorokin hat, soweit ich mich erinnern kann, das ganze Leben gegen die besessene Ideologie gekämpft. All seine schrecklichen schockierenden Szenen, unappetitlichen Details und ordinäres Fluchen hängen gerade damit zusammen. Die Große Sowjetliteratur hat ihm nicht wenige Anlässe für Bissigkeit beschert. Sorokin ist zweifellos ein glänzender Stilist. Und der Stil ergibt sich bei ihm im Kontext des Ringens – so springt er zurück in die Literatur.

„Der Tag des Opritschniks“ ist keine schreckliche Phantasie, die wie bei Orwell in die Realität reicht. Sondern eine Phantasie der Phantasie – eine Welt, die offenkundig unmöglich ist. Aber ihre Bilder sind mit den Ideologemen unserer Welt in eine Verbindung gebracht worden. Und die Leere, die uns überall erfasst, zeigt sich in der künstlerischen Handlung.

Sorokin stammt aus der sowjetischen Realität. Er spürt ausgezeichnet die Sprache des Big Brothers. Und dort, wo diese Sprache erneut in Gestalt von Gesprächen über eine christlich-orthodoxe Monarchie auftaucht, beginnt eine erzählerische Bewegung der Luft.

Es kommt der harte Sorokinsche Humor zum Tragen. Solch einer muss er auch sein, damit der Leser – Gott bewahre – nicht in den Strudel der Ideologie gerät, damit er stets eine sichere Distanz wahrt.

Hier wirken sich die Erfahrungen des kulturellen Undergrounds aus, jener gastfreundlichen Küchen, in denen rituelles Lachen erklang. Amüsant ist, dass in der Erzählung Wsewolod Nekrassow (ein russischer Lyriker und Vertreter der Konkreten Poesie, der von 1934 bis 2009 lebte – Anmerkung der Redaktion) mit einem etwas veränderten Nachnamen vorkommt.

Heute macht der Big Brother Sorokin keine großen Sorgen. Und er spielt mit den Ideologemen genauso wie auch mit den unterschiedlichen künstlerischen Praktiken – ohne besondere Vorlieben.

Indem Sorokin über die Grenzen der Ästhetik herausspringt, wiederholt er zum Teil seine früheren Erfahrungen und korrigiert sie teilweise.

Was für wesentliche Momente des Sorokinschen Aussteigens gibt es in dem neuen Roman? Erstens grobe Affekte. Garin wird in einem Flugzeug ausgenommen. Garin zwängt sich als ein Obdachloser in eine Straßenbahn. Er ist in diesem Moment unangenehm. Seine Freundin verliert ein Bein und verwandelt sich in den Buchstaben „L“. Auch eine abstoßende Episode. Von derartigen Sachen gibt es im Text ein wenig.

Zweitens, Sorokin schreibt nicht nur, sondern zeigt auch den Prozess des Schreibens. Er beobachtet ihn. In „Doktor Garin“ erfolgt dies dank einer Vielzahl eingebauter Fragmente, die belegen, dass man über das Geschehen sowohl so als auch so sprechen kann. Alles wird wahr sein. Der Künstler malt natürlich ein Bild. Mitunter aber berührt er uns mit dem Pinsel. Und wir springen zur Seite.

Sorokin versteht es, eine Erzählung in die Erzählung einzubauen, von ihrer Poetik her unterschiedliche Schritte zu unternehmen. In seinem neuen Roman gibt es wesentlich mehr derartiger Fragmente. Sie sind nicht alle tadellos. Zum Beispiel, als Garin aus dem zerstörten Barnaul flieht und sich in einem verlassenen Dorf wiederfindet, gerät ihm ein Zettelchen in den Blick, eine Notiz über die Notwendigkeit, das Dach zu reparieren. Eine Notiz wie halt jegliche Notiz, doch in ihr werden buchstäblich unbeabsichtigt Erläuterungen gegeben, die an uns gerichtet sind, an die Leser. Für den Adressaten sind sie völlig unnötig. Er kennt auch so ausgezeichnet alle Umstände: „das Blech ist durchgerostet, obwohl man es auch oft gestrichen hatte“, „sie würden sich mit Bier besaufen und das Schangwa-Spiel oder Durak (russisches Kartenspiel mit einem Deck aus 36 Karten – Anmerkung der Redaktion) spielen“, „man würde alles mit einer Schnecke abdecken, und alles würde ohne Feuchtigkeit sein, denn die Schnecke ist gerade dafür hier, um die Feuchtigkeit zu halten“. Doch das Wesen der Angelegenheit ändert sich dadurch nicht.

Sorokin probiert an sich die Formen der Klassik aus und verreißt mit Vergnügen klassische Verse. Sein Lieblingsschriftsteller ist Dostojewskij. Und dies ist kein Zufall. Ihn zieht es die ganze Zeit zur Metaphysik. Aber weiter als ein Spiel geht die Sache nicht. Nun ja, Dostojewskij, Tolstoi, Tschechow. Und das Feuer. Große Bücher brennen ausgezeichnet: So verwandelt sich die Metaphysik in ihr Gegenteil.

Die Hauptfrage der Romane Sorokins ist eine anthropologische. Der Mensch hat jegliche Tiefe verloren: Er lebt durch die Haut, er urteilt auf der Ebene der Haut. Irgendein „Trip“, ein Relaxen für ihn ist zweifellos wichtiger als ein Eintauchen in die Tiefe. Wenn sie aber mehr als eine Bestrebung auftaucht, so wird sie sofort durch Ironie und eine Phantasmagorie zunichtegemacht. Und dennoch, es gibt noch den Menschen. Er hat sich nicht in Maschinen und der neuen Organik aufgelöst. Doktor Garin ist ein Muster solch eines normalen Menschen, der weiß, dass alles von seinem Willen und seiner Entschlossenheit abhängt. Garin glaubt, dass es einen Weg gibt. Und wir gestalten ihn. „Ich glaube daran, folglich kenne ich ihn“, ist der Held überzeugt, den das Schicksal führt und nicht mit sich schleift.

Sorokin versetzt seinen Schützling in die Zukunft, obgleich seine Mentalität, Verhaltensweisen und Sprache unseren Zeitgenossen ausweisen. Es ist möglich, dass gerade die Figur der Hauptperson, mit der die Leser imstande sind, sich zu identifizieren, den Roman zu einem anziehenden macht.

Aber wo ist denn der Autor? Er schaut aus der Höhe zu und entdeckt sich zur gleichen Zeit im eigentlichen Gang, in dem Bestreben, dem Hirngespinst und der Phantasie eine Gestalt zu verleihen. Anders gesagt, der Schriftsteller befindet sich sowohl über als auch innerhalb des Prozesses. Er realisiert sich im Schreiben, in diesem Strom, der nicht in eine stille Bucht, in ein Archiv strömt, sondern im Gegenteil alles und jeden mitreißt.

Der Strom erlaubt dem Schriftsteller, die Personen von innen her zu sehen und gleichzeitig ihr Emblem zu sein. In „Doktor Garin“ gestaltet er einen bestimmten Prototyp eines Helden: Er ist ein Mann mittleren Alters, ein mobiler, der adäquat auf die sich ergebenden Umstände reagiert. Er ist ein Profi, ein Stadtbewohner, heterosexueller, toleranter gegenüber allen Formen von Sexualität und allen Modifikationsformen des homo sapiens. Ohne irgendwelchen liberalen Drall in Gestalt von „Menschenrechten“. Nur ein „Lebensrecht“. Oder gar das „Recht des Lebens“. Das Leben diktiert alles Übrige.

Derart ist der Maßstab, der Prototyp, der an und für sich natürlich leer ist. Aber viele Leser entdecken sich gerade in ihm. Dank dieser Figur finden sie ihren Platz in der Welt, ihren Abschnitt, ihr Territorium, um beim nächsten Schritt deterritorialisiert zu werden und sich erneut im Strom des Werdens wiederzufinden.