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Zensurbesen bestimmt Spielzeitbeginn vieler Moskauer Theater


Moskauer Theater nehmen von konzipierten Premieren Abstand – aufgrund von Problemen mit den Urheberrechten, aber auch wegen dem moralisch unpassenden Charakter von Titeln, was Konstantin Chabenskij ehrlich im Moskauer Tschechow-Künstlertheater bekanntgab. Diese hauptstädtische Bühne nimmt im Übrigen einige Inszenierungen von Sergej Shenowatsch (u. a. „In den Schützengräben von Stalingrad“), der bis Oktober vergangenen Jahres die Truppe geleitet hatte, und seiner Schüler vom Spielplan. Man kann aber Sergej Wassiljewitsch (Shenowatsch) nur gratulieren: Die neue Spielzeit eröffnet sein Studio für Theaterkunst, das sozusagen volljährig geworden ist, erneut im Status eines eigenständigen föderalen Theaters. Die Geschichte mit dem blödsinnigen Anschluss in Gestalt einer Filiale an das Künstlertheater ist zu ihren Anfängen zurückgekehrt, nachdem sie ordentlich an den Nerven ihrer Beteiligten herumgezerrt hatte.

Das, was alle befürchtet hatten, hat sich nach der Sommerpause doch ereignet. Die Repertoires der Theater werden zensiert. Wegen antimilitaristischer Äußerungen in den sozialen Netzwerken sind die Inszenierungen des 30jährigen Alexander Molotschnikow im Bolschoi-Theater und Theater an der Bronnaja (-Straße) gecancelt worden. Abgesetzt wurden alle Inszenierungen von Dmitrij Krymow, die für den Herbst im Repertoire des Puschkin-Theaters (die Inszenierung „Kostik“ hatte man das letzte Mal im Juni vor vollem Haus gespielt), in der Pjotr-Fomenko-Theaterwerkstatt, der „Schule für zeitgenössische Stücke“ („Alle sind hier“) und der „Schule für dramatische Kunst“ geplant waren. Und dies ohne die noch nicht „ans Licht der Welt gebrachte“, aber inszenierte Aufführung von „Peter Pan“ im Theater „Sowremennik“ (deutsch: „Der Zeitgenosse“) zu berücksichtigen. Getan wird dies mit dem naiven Vorwand „aufgrund technischer Ursachen“, grobschlächtig und in großer Eile – buchstäblich innerhalb eines Tages. Die Theater sind dadurch in eine äußerst unschöne Situation gegenüber den Zuschauern geraten, denen sie jetzt das Geld für die schon vor langer Zeit erworbenen Eintrittskarten zurückzahlen müssen und große finanzielle Verluste einstecken. „So „ernährt“ (die Inszenierung) „Mozart, „Don Giovanni“, Generalprobe“ mit Jewgenij Zyganow schlicht und einfach die Fomenko-Truppe. Die unabhängige Agentur „Art-Partner“ von Leonid Roberman hat ebenfalls ein Repertoire ohne Krymow-Inszenierungen veröffentlicht. Das Museum Moskaus, wo die Stücke „Boris“ und „Zwei“ gespielt wurden, hat den Vertrag natürlich nicht verlängert. Der Versuch, eine Inszenierung („Boris“) auf eine Tournee zu schicken, endete auch ohne einen Erfolg. Das Festival „Baltisches Haus“ in Petersburg hat die Gastspielvorstellungen von Krymow- und Iosif-Reichelgaus-Inszenierungen abgesagt.

In der „Schule für dramatische Kunst“ wird das Absurde der Situation dadurch verschlimmert, dass beide Inszenierungen von Krymow – „Mädchen ohne Mitgift“ und „Oi. Eine späte Liebe“ – nach Alexander Ostrowskij auf die Bühnenbretter gebracht wurden. Zum Jubiläum des wichtigen russischen Dramatikers im kommenden Jahr planen die Theater im Schweiße ihres Angesichts mit dem Fingerzeig der Gründer speziell thematische Premieren, rechenschaftspflichtige Bildungsveranstaltungen, werden kostenlose staatliche Zuschüsse für ihre Durchführung bereitgestellt. Aber solche Peanuts bewegen schon wenige. Die Aufgabe ist klar: Jede Präsenz des „weißen Emigranten“ ist zu vernichten. Inszenierungen von Theatern, die dem föderalen Kulturministerium unterstehen, sind jedoch nicht betroffen worden – „Mu-mu“ im Theater der Nationen und „Serjoscha“ im Moskauer Künstlertheater.

Allerdings hat beispielsweise die Direktorin der „Schule für dramatische Kunst“, Olga Sokolowa, ganz und gar keinen Gewöhnungsbedarf mehr, um gegen die Spuren von Krymow im Theater zu kämpfen. Die gewaltige Schicht seiner Inszenierungen ist auf persönliche Initiative der Theaterleitung schon vor langem „zu Grabe getragen worden“. Daher fügen sich die zum Beginn der 36. Spielzeit verkündeten Pläne des Theaters zur faktischen Umbenennung des zuvor angegliederten Meyerhold-Zentrums in „Bühne an der Nowoslobodskaja“ durchaus in die „Stilistik“ dieser Managerstrategie ein. Der Name von Wsewolod Meyerhold wird „unbemerkt“ dem Vergessen preisgegeben. Und um die Erinnerungen an ein Vierteljahrhundert Arbeit des Meyerhold-Zentrums endgültig zunichtezumachen, sind im Internet seine beiden Seiten mit dem gesamten Archiv liquidiert worden – unter dem Vorwand der Verlegung der Internetdomäne.

Der Druck auf die Theater wird durch die Beamten so grobschlächtig vorgenommen, dass sie aus ihrem eigenen „Bereich“ ein kritisches Echo erhalten. Machttreue Telegram-Kanäle ironisieren sowohl über die Repertoire-Säuberungen als auch die ideologischen Bedürfnisse der „Gruppierung“ GRAD (entsprechend der russischen Abkürzung „Gruppe zur Untersuchung einer antirussischen Tätigkeit“). Mit der Unterschrift des Abgeordneten Dmitrij Kuszenow (aus der kremlhörigen Partei „Gerechtes Russland – Für die Wahrheit“) haben Theater schriftliche Anordnungen für Inszenierungen über die „Bürgerwehr im Donbass“ und zur „Unterstützung der Streitkräfte der Russischen Föderation“ zu erhalten begonnen, zu denen die Theater angeblich kurzfristig Rechenschaft ablegen oder eine Synopsis zu den künftigen Premieren vorlegen sollen.

Das Gogol-Theater (in den vergangenen Jahren als Gogol-Zentrum weltweit bekanntgeworden – Anmerkung der Redaktion) ist unter der neuen Führung um die Hälfte ausgeblutet worden. Alle Schüler von Kirill Serebrennikow („Siebtes Studio“) haben das Haus verlassen. Und innerhalb einer rekordverdächtig kurzen Zeit muss man die Truppe um zwei Dutzend Mimen auffüllen. Eine große Frage ist dabei aber – nicht nur mit wem, sondern auch womit wird das Theater Ende September – wie bisher geplant – die neue Spielzeit beginnen? Ein Großteil des Repertoires ist der Geschichte anheimgefallen. Dafür probieren jetzt die Schauspieler und anderen künstlerischen Kräfte, die vor zehn Jahren nicht mit Serebrennikow zusammenarbeiten konnten oder wollten, erneut ins Theater zurückzukehren. Laut Informationen der „NG“ ist es im Zusammenhang mit einer gesetzgeberischen Nuance nicht möglich, Schauspieler zu entlassen. (Gerade daher werden nunmehr entsprechend einem neuen Schema Zeitverträge unterschrieben, und keine unbefristeten. Und einige Mitarbeiter aus der Ära von Sergej Jaschin (des Theaterchefs bis zum Jahr 2012) hatten weiterhin Gehalt bekommen, aber nicht am Leben des Theaters teilgenommen. Jetzt könnten sie im Grunde genommen die Truppen auffüllen. Und dies wird aber bedeuten, dass die Zeit nicht nur im künstlerischen, sondern auch im direkten Sinne eine Rückwärtsentwicklung genommen hat. In diesem Zusammenhang sein ein symbolisches Detail hervorgehoben: Man wird das Theaterfoyer jetzt wieder zu einem geschlossenen machen. Und ins Gebäude an der Moskauer Kasakow-Straße wird man nur mit einer entsprechenden Eintrittskarte gelangen können.

Bei der Zusammenkunft des Ensembles im „Lenkom von Mark Sacharow“ (Theater des Lenin-Komsomols) spielte man einer Zweierszene in rosaroten Tönen. Direktor Mark Warschawer und der neue Chefregisseur Alexej Frandetti hatten rosafarbene Anzüge mit Weste angezogen, und die Schauspieler würdigten sie mit rosaroten Nelken. Das romantische Flair zu Ehren der Eröffnung einer soliden Spielzeit (das Haus wird 95 Jahre alt) lief bewusst dem weltweiten Chaos zuwider. Frandetti, der seine Liebe zum „Lenkom“ eingestand, sah wie ein junger und furchtloser Bube vor dem Hintergrund des beeindruckenden „Politbüros“ aus – Warschawer, der nicht zu erinnern vergaß, wer hier die erste Geige spielt, die Koryphäe Alexander Sbrujew, Leiter des künstlerischen Rates des Theaters (der Volkskünstler feierte jüngst sein 60jähriges Bühnenjubiläum gerade auf der Bühne des „Lenkom“) und der Producer-Produzent Valerij Janklowitsch, dem bei der Zusammenkunft des Ensembles die ehrenvolle Mission zugefallen war, Warschawer Lobeshymnen zu singen, unter anderem um die „Mythen und Legenden“ hinsichtlich der Verderblichkeit zweiter Besetzungen in den Inszenierungen von Sacharow zu zerstreuen und um sich reinzuwaschen: Nicht einfach so habe Sacharow uns die Rechte auf die Inszenierungen überlassen. Beide Themen waren in der vergangenen Spielzeit viel im Gespräch.

Für Frandetti wird die Spielzeit zu einer arbeitsreichen. Im „Lenkom“, wohin der Regisseur offiziell für drei Jahre gekommen ist, plant er, die Hip-Hop-Oper „Majakowskij“ zu inszenieren (Musik-Produzent sind der russische Rapper Wassilij Wakulenko, der unter dem Künstlernamen „Basta“ auftritt, und das Team „Gasgolder“). Und er hat schon jetzt die Schauspieler aufgefordert, an ihren Stimmen zu arbeiten. Er muss aber auch noch frühere Verträge abarbeiten – die Musikkomödie „Kretschinskijs Hochzeit“ im Maly-Theater und das Musical „Das gewöhnliche Wunder“ im Petersburger Brjanzew-Theater des jungen Zuschauers herausbringen. Und er erinnerte auch an Pläne im Obraszow-Theater.