Zu Konsequenzen der von Präsident Putin angeordneten militärischen Sonderoperation in der Ukraine wurden nicht nur harte – und auch zu erwartende – Wirtschaftssanktionen, sondern auch ein unerwarteter Verzicht auf russische Kultur im Westen. Und sogar mehr – eine Spaltung der Künstlergemeinschaft innerhalb Russlands.
Innerhalb von mehr als drei Wochen hat ein Künstler nach dem anderen eine Aussetzung oder einen Verzicht auf seine Tätigkeit in Russland erklärt. Der Choreograf Alexej Ratmanskij hat Moskau verlassen, wo er für die Premiere seines Balletts „Die Kunst der Fuge“ – sie ist auf unbestimmte Zeit verschoben worden – geprobt hatte. Ein gleiches Schicksal ereilte die Inszenierung von „Die Tochter des Pharaos“ (Ballett von Marius Petipa und Cesare Pugni, das 1862 seine Uraufführung erlebte – Anmerkung der Redaktion) im Petersburger Mariinski-Theater. Der Choreograf Jean-Christophe Maillot versuchte, die weitere Aufführung seines Balletts „Die gezähmte Spitzmaus“ im Moskauer Bolschoi-Theater zu verbieten. Unmöglich ist die Teilnahme ausländischer Künstler an den weiteren Aufführungen der Wagner-Oper „Lohengrin“ geworden (ihre Premiere erfolgte am 24. Februar). Das Bolschoi cancelte den April-Block. Und nach Aussagen von Generaldirektor Wladimir Urin bereite es für die Sommeraufführungen zwei neue Besetzungen von russischen Sängern vor. Das Haus hat auch Prima-Ballerina Olga Smirnowa verlassen. Und schließlich hat Tugan Sochijew das Amt des Leiters des Orchestre National du Capitole de Toulouse und des Musikdirektors des Bolschoi-Theaters in der russischen Hauptstadt niedergelegt. „Ich kann nicht ansehen, wie meine Kollegen – Dirigenten, Schauspieler, Sänger, Tänzer und Regisseure -–Bedrohungen, einem erniedrigenden Umgang ausgesetzt und zu Opfern einer „Kultur des Cancelns“ werden. Uns Musikern ist die ausschließliche Chance gegeben worden, indem wir diese großen Komponisten darbieten und interpretieren, zu helfen, die Menschheit zu bewahren, sie als eine gute und mit einer achtenden Haltung der Menschen zueinander zu bewahren. Wir Musiker sind dazu berufen, durch die Musik von Schostakowitsch an die Schrecken zu erinnern, die die Menschheit im Zweiten Weltkrieg ereilt hatten. Wir Musiker sind Friedensbotschafter. Anstatt uns und unsere Musik für eine Vereinigung der Nationen und Menschen zu nutzen, versucht man in Europa, uns zu trennen und setzt uns einem Scherbengericht aus“, schrieb Sochijew in seiner entsprechenden Erklärung.
In der Tat, der Westen zwingt russische Kulturschaffende ultimativ, eine Wahl zu treffen – die Arbeit oder ein offenes Auftreten gegen die Sonderoperation in der Ukraine. So hatte Valerij Gergijew derartige Forderungen ohne eine Antwort gelassen und verlor alle westlichen Verträge. In Gefahr ist die internationale Karriere von Anna Netrebko. Interessant ist jedoch, dass in Zürich (das Opernhaus hatte bis zuletzt versucht, das Casting zu bewahren, wobei es daran appellierte, dass es Künstler engagiere, wobei es sich nicht an deren politischen Anschauungen orientiere) Netrebko eine andere russische Künstlerin ersetzte – Veronika Dschiojewa, wie auch Gergijew in der Inszenierung von „Pique Dame“ im Theater „La Scala“ – Timur Sangijew, ein Dirigent des Moskauer Stanislawskij- und Nemirowitsch-Dantschenko-Musiktheaters. Das heißt: Nicht alle geraten unter Sanktionen. Lediglich Künstler aus der ersten Reihe, die man einer Unterstützung oder Nähe zum Präsidenten Russlands „überführte“. Sich abzusichern, versuchen auch jene, die gleichzeitig große einheimische und westliche Institutionen leiten. So hat der künstlerische Leiter des Staatlichen Swetlanow-Orchesters und des Londoner Royal Philharmonic Orchestra Wassilij Petrenko die Tätigkeit in Russland unterbrochen.
Russland ist in die Situation einer Kulturblockade geraten. Das Transsibirische Art-Festival (künstlerischer Leiter ist Wadim Repin), das am 17. März in Nowosibirsk eröffnet wurde, hat kurzfristig das Programm neu organisiert, da alle ausländischen Musiker ihre Teilnahme abgesagt hatten. In der Moskauer Philharmonie sucht man händeringend kurzfristig nach einem Ersatz für die Solisten und Dirigenten, die ihre Gastspiele gecancelt haben. In vielen Fällen sagt man Konzerte ab. In Gefahr ist die kommende Spielzeit, für die die Abonnements bereits ausverkauft sind.
Während sich aber die Musikindustrie, die in den letzten 15 Jahren wirklich zu einer internationalen geworden ist (nach Russland kamen Star-Solisten und Ensembles aus der ganzen Welt), mit eigenen Kräften über Wasser halten kann, denn die einheimische Interpreten-Schulen hat ihre Stärke nicht eingebüßt, befindet sich beispielsweise die Filmindustrie am Rande eine Katastrophe. Auf eine Präsenz in Russland haben alle großen Studios verzichtet, was unausweichliche Konsequenzen für den russischen Markt haben wird. Das Kulturministerium arbeitet an einem neuen Plan zur Rettung der einheimischen Filmschaffenden sowie zur Unterstützung der Verleiher und Inhaber der Kino-Ketten. Dies ist aber alles für die langfristige Perspektive.
Bisher bestätigen sich nicht die Gerüchte, wonach Bilder aus der Kollektion der Morosows (sie gehören des Moskauer Puschkin-Museum und der Petersburger Hermitage), die sich heute in einer Ausstellung der Pariser Stiftung Louis Vuitton befinden, nicht nach Russland zurückkehren könnten. Diese Befürchtungen sind aber grundlos. Das schlimmste Szenario, bei dem aufgrund dessen, dass ein Transport nach Russland nicht möglich ist, die Exponate nicht „ausreisen“ können, ist in der Theorie durchaus möglich.
Die Leiter der Kultureinrichtungen sind gewarnt worden, wenn man in solch einem Sinne den Kommentar des Vorsitzenden der Staatsduma Wjatscheslaw Wolodin auslegt: Sie unterstützen nicht die Handlungen Russlands in der Ukraine und erklären dies, so bitte: Das Kündigungsschreiben auf den Tisch! Zwei Theaterfestivals (in Archangelsk und Nowosibirsk, an denen die in einem gewissen Sinne prophetische Inszenierung „Judit“, die in ukrainischer Sprache aufgeführt wird, haben eine Verschiebung bekanntgegeben. Dabei ist die Direktorin des Nowosibirsker „Ersten Theaters“ und des Festivals „Eins. Zwei. Drei“, Julia Tschurilowa, durch den Gründer ohne Angabe der Gründe entlassen worden. Aus dem Spielplan der „Bojaren-Gemächer“ in Moskau ist eine Inszenierung nach einem Stück der Dramaturgin Asja Woloschina, die sich offen in den sozialen Netzwerken über die Ereignisse in der Ukraine geäußert hatte, genommen worden. Keine geringe Rolle hatten bei diesen Ereignissen anonyme Telegram-Kanäle gespielt, die die genannten Aufführungen in einem bestimmten Sinne angekündigt hatten. Die Position von Kulturschaffenden wie auch die Zukunft der russischen Kultur wurden auch Gegenstand einer Diskussion des Staatsduma-Ausschusses für Kulturfragen. Den Wortmeldungen der Ausschussmitglieder nach zu urteilen, billigen sie alle eine Zensur, wobei sie deren Einführung mit der staatlichen Sicherheit rechtfertigen. In Zeiten, in denen die Kultur entgegen allen Widrigkeiten vereinen soll – die Menschen, Ländern, die Welt, ist sie als erste zu einem Ort der Spaltung geworden.